Seit einigen Jahren setzen Unfall- und Invalidenversicherungen verschiedene Überwachungsmethoden ein, wenn sie Zweifel an der Anspruchsberechtigung von Versicherten hegen – bisweilen ohne genügende gesetzliche Grundlage.

Zu diesem Schluss kommt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in seinem Urteil 61388/10 „Vukota-Bojic c. Schweiz“ und verurteilte die Schweiz am 18. Oktober 2016 wegen Verstoss gegen Art. 8 EMRK. Die mangelhafte Rechtsgrundlage wird auch mit der bevorstehenden Revision des Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) nicht korrigiert.

Die Observation von Versicherten stellt einen schweren Eingriff in deren Privatsphäre dar, weshalb sich zahlreiche Fragen aufdrängen, die – sollten Überwachungsmassnahmen tatsächlich zur Verfügung stehen – in einem formellen Gesetz geregelt werden müssen: Dürfen die überwachten Personen fotografiert oder gefilmt werden? Dürfen auch Tonaufzeichnungen gemacht werden? Müssen die Kameras statisch befestigt oder dürfen die Betroffenen aktiv verfolgt werden? Dürfen Drohnen eingesetzt werden? Wo darf überwacht werden? Im öffentlichen Raum? Oder darf von aussen in die Wohnung hinein fotografiert werden? Wie viele Stunden pro Tag darf überwacht werden? Wie viele Tage in der Woche und wie lange insgesamt? Welche Gründe führen zu einer verdeckten Observation? Muss der Verdacht auf eine strafbare Handlung vorliegen oder genügt ein Verdacht, der – sollte er sich erhärten – lediglich eine Rückerstattung zur Folge hätte? Wer darf im konkreten Fall entscheiden? Der zuständige Sachbearbeiter des Sozialversicherers? Die Teamleiterin? Oder doch eher die Staatsanwaltschaft resp. ein Gericht? Wer darf die Überwachung durchführen? Private Detektivbüros, die ohne jede Qualitätskontrolle oder Zertifizierung operieren? Wer hat wann Zugang zu den Aufzeichnungen? Wer kann diese bearbeiten oder löschen? Und wer überwacht die Überwacher_innen? Das BSV? Oder braucht es nicht eher eine richterliche Überwachung? Alle diese Fragen sind im revidierten Gesetzesentwurf ungenügend bis gar nicht beantwortet (siehe Vernehmlassungsantwort der DJS auf www.djs-jds.ch).

Die DJS kritisieren den vorgeschlagenen neuen Art. 43a ATSG aber nicht nur wegen der mehr als nur mangelhaften Umsetzung des oben erwähnten EGMR-Urteils, sondern lehnen die verdeckte Observation im Sozialversicherungsrecht – wie auch im Sozialhilferecht – als solche ab. Zum einen erachten wir es als mit der staatlichen Kompetenzordnung nach Art. 57 BV sowie dem Gewaltmonopol nicht vereinbar, Sozialversicherungen mit polizeilichen Überwachungskompetenzen auszustatten. Zum anderen stellt der ungerechtfertigte Bezug von Sozialleistungen bereits eine Straftat nach Art. 148a StGB dar. Gestützt hierauf sind die die Strafverfolgungsbehörden ohnehin ermächtigt, solche Ermittlungen durchzuführen – unter Einhaltung der klar formulierten Voraussetzungen und Grundsätze der StPO, der BV sowie der EMRK. Weitergehende Massnahmen sind aus Sicht der DJS schlicht überflüssig.

Der Gesetzesentwurf für das neue ATSG sieht in zwei Varianten des Art. 61 ATSG auch eine Kostenpflicht für bestimmte Gerichtsverfahren vor. Die DJS sehen keine guten Gründe für diese Erschwerung des Zugangs zum Recht.

Die obligatorischen Sozialversicherungen stellen obligatorische existenzsichernde Leistungen für Menschen dar, die ihr Einkommen aus verschiedenen Gründen nicht mehr aus eigener Kraft verdienen können. Deshalb heissen diese Versicherungen auch „Sozial“-versicherungen. Auch der Rechtsschutz sollte diesem Prädikat genügen.

Melanie Aebli, Geschäftsleiterin DJS

Text erschienen im plädoyer 4/2017

siehe dazu auch Dossier von humanrights.ch: Observation von IV-Bezügern