Gemeinderat der Stadt Bern
Regierungsrat des Kantons Bern
Bern, 14. Mai 2020
Versammlungs- und Meinungsäusserungsfreiheit durchsetzen
Sehr geehrte Mitglieder des Gemeinderats
Sehr geehrte Mitglieder des Regierungsrats
Die Demokratischen Juristinnen und Juristen Bern (djb) begrüssen die getroffenen Massnahmen des Bundes, des Kantons und der Stadt Bern, angesichts der Corona-Pandemie Zusammenkünfte von Personen zu regulieren und damit die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen.
Wir möchten jedoch daran erinnern, dass auch in einer ausserordentlichen Lage Verfassungsgrundsätzen Rechnung zu tragen ist und erwarten eine verhältnismässige Umsetzung aller Massnahmen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie entsprechend der Erläuterungen zur Covid-19-Verordnung 2 des Bundes[1]: «Das Verhältnismässigkeitsgebot gebietet es, eine Einzelfallbetrachtung durch die Vollzugsbehörden für bestimmte Situationen zu ermöglichen. Dies deshalb, weil sonst die Gefahr besteht, dass insbesondere die grundrechtlich geschützte Durchführung von Versammlungen (vgl. Art. 22 BV) gänzlich verboten wird, bei denen eine Verbreitung des Coronavirus ausgeschlossen oder unwahrscheinlich wäre. Die grundsätzlichen Verbote werden deshalb mit einer Ausnahmemöglichkeit ergänzt.»[2]
Insbesondere Versammlungen, deren Zweck die Äusserung von politischen Meinungen ist, gebührt besonderer Schutz, wie dies die Kantonsverfassung in Art. 19 ausdrücklich verbrieft. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und das Bundesgericht betonen einhellig, dass die Grundrechte freier Kommunikation Grundlage eines jeden demokratischen Staatswesens sind.
Leider wirft der Umgang mit Demonstrant*innen in der Stadt Bern in der ausserordentlichen Lage Fragen auf: Aktionen, die auf den Umgang mit Geflüchteten an Europas Aussengrenzen aufmerksam machten, wurden umgehend unterbunden, auch wenn dabei nur Zweiergruppen mit Transparenten durch die Stadt zogen; ebenso wurden zwei Gewerkschaftern am 1. Mai ihre Fahne abgenommen. Ein solches Vorgehen ist unter keinen Umständen gerechtfertigt und verletzt neben Freiheitsrechten auch das Rechtsgleichheitsgebot, zumal die Polizei an bisher zwei Samstagen grössere Ansammlungen gewähren liess, die sich in der Stadt versammelten.
Gerade auch angesichts der Öffnung von Geschäften und Restaurants fordern wir die Behörden auf, politische Kundgebungen zu ermöglichen und gleichzeitig eine weitere Ausbreitung des Coronavirus zu verhindern. Die Partizipation an der politischen Meinungsbildung ist genauso wichtig wie das wirtschaftliche Wohlergehen der Bevölkerung.
Die djb fordern den Regierungsrat auf, Ausnahmebewilligungen gestützt auf Art. 7 COVID-19-Verordnung 2 im Hinblick auf die Verwirklichung der Grundrechte zu erteilen. Kundgebungen mit weniger als 5 Personen sind in jedem Fall zu bewilligen; dasselbe gilt für grössere Veranstaltungen, die es ermöglichen, Abstands- und Hygienemassnahmen einzuhalten. Wir erwarten von Gemeinde- und Regierungsrat, sich auf allen Ebenen dafür einzusetzen, dass die Berner Bevölkerung von ihren verfassungsmässigen Rechten – immer mit Rücksicht auf die epidemiologische Situation – Gebrauch machen kann.
Mit freundlichen Grüssen
Moritz Lange, Geschäftsleiter
Demokratische Juristinnen und Juristen Bern (djb)
[1] Erläuterungen zur Verordnung 2 vom 13. März 2020 über Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus (COVID-19-Verordnung 2), Fassung vom 8. Mai 2020.
[2] Ebd. zu Artikel 7, S. 31.