Bern, 29. April 2020

Das Bundesgericht hat in der heutigen öffentlichen Urteilsberatung die Beschwerde gegen das Berner Polizeigesetz in zahlreichen Punkten gutgeheissen und ist weitgehend der Argumentation der Beschwerdeführenden gefolgt. Es hebt die «Lex Fahrende» vollumfänglich auf, ebenso die Bestimmung zur Observation mit technischen Überwachungsgeräten sowie eine Norm, die Wegweisungen zwingend mit einer Strafdrohung versieht. Demgegenüber ist es der Ansicht, dass die Normen zur Kostenüberwälzung bei Kundgebungen sich einer verfassungskonformen Anwendung nicht verschliessen.

Die Demokratischen Juristinnen und Juristen Bern (DJB) hatten die Beschwerde im März 2020 zusammen mit zahlreichen weiteren Beschwerdeführenden beim Bundesgericht in Lausanne erhoben. Die Beschwerde umfasste vier Bereiche, die das Bundesgericht heute im Rahmen einer sogenannten «abstrakten Normenkontrolle» beurteilte:

Lex Fahrende

Die «Lex Fahrende» sieht die Wegweisung von Fahrenden und auch die Räumung eines Geländes innerhalb von 24 Stunden, wenn der Eigentümer dies verlangt. Eingeführt wurde damit unter dem Deckmantel einer Norm gegen «wildes Campieren» eine polizeirechtliche Sonderregelung gegen Personen, welche der Minderheiten der Fahrenden angehören. Die Beschwerdeführer sehen mit der Bestimmung u.a. das rechtliche Gehör der Betroffenen verletzt und erachten diese Norm als diskriminierend. Dies gilt umso mehr, als bis heute in der Schweiz und auch im Kanton Bern nicht hinreichend Stand-, Durchgangs- sowie Transitplätzen bestehen: Der Staat kommt seinen grund- und menschenrechtliche Schutzpflichten seit langem nicht nach und erlässt gleichzeitig gravierende Polizeimassnahmen, gegen ein Problem, das er selbst provoziert.

Das Bundesgericht teilt diese Kritik. Es verwies heute ausdrücklich darauf, dass die Schweiz auch Pflichten zum Schutz der Fahrenden treffe, insbesondere zur Wahrung, Förderung und Weiterentwicklung ihrer Lebensweise. Die repressiven Bestimmungen, die praktischen keinen Rechtsschutz vorgesehen haben, verletzten elementare Grundrechte (insb. das Recht auf Wohnen) bzw. die Bestimmungen zum Schutz dieser Minderheit. Das Bundesgericht hat die «Lex Fahrende» daher vollumfänglich aufgehoben. Das Urteil dürfte schweizweit Signalwirkung haben: Stigmatisierende Sondernormen werden vom Bundesgericht nicht toleriert.

Observation

Angefochten wurden auch die neuartigen und weitgehenden Bestimmungen zur polizeilichen Observation, die insb. den Einsatz von technischen Überwachungsgeräten ohne jeden Tatverdacht vorsehen (beispielweise GPS-Geräte). Das Polizeigesetz erlaubt diese Massnahme anders als die Strafprozessordnung ohne jede vorgängige gerichtliche Genehmigung. Die Beschwerdeführer erblicken darin u.a. einen unrechtmässigen Eingriff in die Privatsphäre.

Das Bundesgericht sieht in dieser Norm offenbar ein erhebliches Missbrauchspotential und ist auch in diesem Punkt den Beschwerdeführenden vollumfänglich gefolgt. Diese Art der Überwachung stelle einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff dar, dieser ist selbst in der Strafprozessordnung nur bei besonders schweren Delikten, unter Voraussetzung einer vorgängigen richterlichen Genehmigung und der Gewährung prozessualer Rechten. Hinter diese Schranken bleibt die Berner Norm weit zurück, weshalb sie aufgehoben wird.

Zwingende Strafdrohung bei Wegweisung

Eingeführt wurden ferner eine Norm, welche die Verfügung einer Wegweisung oder Fernhaltung zwingend mit einer Strafdrohung versehen hätten. Auch diese erachtet das Bundesgericht als unverhältnismässig und damit verfassungswidrig. Es hebt auch diese Norm auf, womit sich betreffend Wegweisungen im Allgemeinen (nicht nur von Fahrenden) die Situation verbessert.

Kostentenüberwälzung bei Demonstrationen

Nach Ansicht der Beschwerdeführer bedroht die im Polizeigesetz vorgesehenen Überwälzung von Polizeikosten auf Veranstalter und Teilnehmerinnen von Demonstrationen die Demonstrationsfreiheit. Die enormen Kosten von bis zu CHF 30'000 verbunden mit kaum vorhersehbaren Haftungsvoraussetzungen können einen erheblichen Abschreckungseffekt verursachen. Dies hatte das Bundesgericht bereits in einem früheren Entscheid (BGE 143 I 147) festgehalten, dabei aber wichtige Grundsatzfragen unbeantwortet gelassen. Diese Fragen wurden dem Bundesgericht nun vorgelegt.

Das Bundesgericht ist leider in seiner öffentlichen Urteilsberatung diesen Fragen weitgehend ausgewichen. Insbesondere hat es nicht berücksichtigt, dass das Berner Gesetz noch wesentlich weiter geht als das Luzerner Gesetz, einen viel weiteren Anwendungsbereich umfasst (selbst etwa einen friedlichen Menschenteppich, passive Verhalten, verbale Äusserungen etc.), die Anwendung der Norm kaum vorhersehbar ist und dabei ganz empfindliche Gebühren bis zu CHF 30'000 drohen. Dies dürfte gerade friedliche Veranstalter*innen und Teilnehmer*innen von Demonstrationen abschrecken, was für die Bundeshauptstadt besonders gravierend ist. Zudem hat das Bundesgericht die Umstände der Normanwendung nicht berücksichtigt, so hat insbesondere die rechnungsstellende Gemeinde ein finanzielles Eigeninteresse und kann daher nicht als unabhängig gelten. Schliesslich hat sich das Bundesgericht auch in keiner Weise mit dem Einwand beschäftigt, dass die Gebührenüberwälzung nicht nur zu einem chilling effect, sondern auch zu einer doppelten Bestrafung führen kann.

Die DJB bezweifeln, dass die vom Bundesgericht – in der Theorie – aufgezeigte Möglichkeiten einer verfassungskonformen Anwendung tatsächlich geeignet ist, den Abschreckungseffekt einzudämmen und kündigen schon jetzt an, die konkreten Auswirkungen des Gesetzes in der Praxis genau zu beobachten.