Semper audiatur et altera pars. Dieser Grundsatz, der seit dem römischen Reich die Geschicke der Gerichtsverfahren bestimmt, geht davon aus, beide Seiten seien anzuhören. Bis heute ist dieses Prinzip prägend für eine rechtsstaatliche Justiz und Grundlage eines fairen Verfahrens. Alle Verfahrensbeteiligten können ihre Sicht der Dinge gegenüber den Richter*innen darlegen – oder auch nicht, sollten Angeschuldigte sich entscheiden, vom Recht auf Aussageverweigerung Gebrauch zu machen. Im Anschluss an die Äusserungen der Verfahrensbeteiligten hat das Gericht unabhängig und unparteiisch ein Urteil zu fällen. Nicht zuletzt um eben diesen eigenen Standpunkt darlegen zu können, garantiert die Europäische Menschenrechtskonvention den Parteien das Recht auf eine Prozessvertretung. Rechtsanwält*innen haben den Auftrag, die Ansicht der Mandant*innen professionell vor Schranken vorzutragen – ohne sich allerdings gemein mit der Klient*innen Anliegen zu machen. In diesem Kontext darf die Berufsausübung selbstverständlich nicht bestraft werden.

Anders in der Türkei. Genau diese für das faire Verfahren so wichtigen Prinzipien werden von den Gerichten in der Türkei seit Jahren systematisch missachtet [1]. Anwält*innen stehen in der Türkei vor Gericht, weil sie eben das taten, was Rechtsvertreter*innen tun: Ihre Mandant*innen auf ihre Rechte aufmerksam machen (etwa auf das Recht zu schweigen), Schadenersatzprozesse gegen die Regierung nach einem Grubenunglück anzustrengen, Verfahrensanträge stellen, die der Absicht der Strafverfolgungsbehörden zuwiderliefen, die Angeschuldigten ohne Weiteres zu verurteilen. Ein Beispiel unter vielen ist das Verfahren gegen 18 unserer Berufskolleg*innen [2], die am 20. März 2019 zu Haftstrafen zwischen 3 und knapp 19 Jahren verurteilt wurden – darunter auch Ebru Timtik (13½ Jahre) und Aytaç Ünsal (10½ Jahre). Mit solchen Urteilen beugen sich die türkischen Gerichte dem Druck der Regierung, die gesamte Opposition ins Visier zu nehmen – werden Strafverteidiger*innen selbst zu Angeschuldigten, ist dies ein Angriff auf das Recht auf eine Verteidigung an sich. In einer politisierten (Straf)Justiz soll eben nur eine Seite gehört werden, die der Regierung und ihrer Staatsanwält*innen, engagierte Anwält*innen stören hier das Skript zum bereits gefällten Urteil. Verlässt die Verteidigung den ihr zugedachten Platz, riskieren die Parteivertreter*innen selber mit fadenscheinigen Anklagen konfrontiert zu werden. Diese Verfahren werden entweder über Jahre verschleppt [3] oder die Angeschuldigten – wie im Fall unserer 18 Berufskolleg*innen – in einem Verfahren, das den Anforderungen an ein faires Verfahren nicht standhält [4], zu drakonischen Strafen verurteilt. Um ihre Forderung nach einem fairen Verfahren zu bekräftigen, sind zwei unserer Kolleg*innen, Ebru Timtik und Aytaç Ünsal [5], im Februar 2020 in den Hungerstreik getreten, seit April 2020 unbefristet. Nach mehreren Monaten des Hungerstreiks verschlechtert sich ihr gesundheitlicher Zustand zusehends, mittlerweile sind sie in direkter Lebensgefahr – in einem Land, nur wenige Flugstunden von der Schweiz entfernt, das als Beitragskandidatin der Europäischen Union und der Europäischen Freihandelszone gilt.

Als Organisation, welche in den letzten Jahren zahlreiche gegen Anwält*innen geführte Prozesse in der Türkei beobachtet hat und hierbei die fehlende Unabhängigkeit der Gerichte feststellen konnte, unterstützen die Demokratischen Jurist*innen Schweiz (DJS) die Forderungen von Ebru Timtik und Aytaç Ünsal. Wer sich ihrem Ruf nach der bedingungslosen Einhaltung des Fairnessgebots und den dazu gehörenden Verfahrensrechten anschliessen und ihren Forderungen damit weiteren Druck verleihen möchte, kann uns gerne retweeten oder einen eigenen Post machen: Ansicht auf Twitter, @DJS_JDS @chdgenelmerkez, Transpi_1.jpeg, Transpi_2.jpeg, Transpi_3.jpeg

Wir, die DJS und alle Tweeter*innen, wollen die Aushöhlung der Verfahrensgrundsätze nicht hinnehmen und fordern die Türkischen Gerichte auf, unverzüglich faire Verfahren zu garantieren und alle unsere Berufskolleg*innen aus der Haft zu lassen. An dieser Aktion können und sollen sich alle beteiligen, die wollen – die uneingeschränkte Ausübung von Verteidigungsrechten ist ein Grundprinzip einer rechtsstaatlichen Verfahrensordnung.

Demokratische Jurist*innen Schweiz
Philip Stolkin, Andreas Noll, Annina Mullis

Die Onlinepetition, die bis am 21. August 2020 lief, würde von 1850 Jurist*innen aus ganz Europa unterzeichnet
(englische Version der Petition)

Am 23. August 2020 wurde Bundesrat Guy Parmelin in einem offenen Brief von den DJS dazu aufgefordert, das Freihandelsabkommen mit der Türkei nicht zu ratifizieren, solange keine fairen Verfahren garantiert werden können.

---

[1]  pdf«Strafverteidigung auf der Anklagebank», Artikel im plädoyer 1/19
[2] Ausgehend von der Verteidigung von Personen, die wegen Mitgliedschaft in der DHKP-C angeklagt waren, wird den Anwält*innen des Vereins progressiver Jurist*innen (çHD), eine Partnerorganisation der DJS, vorgeworfen, selber auch Mitglied dieser in der Türkei verbotenen Organisation zu sein. Es wird ihnen etwas vorgeworfen, Terrorangeklagte von Aussagen abzuhalten. Auffallend an der Anklageschrift vom März 2018 ist, dass sich das mehrere hundert Seiten umfassende Dokument weitgehend auf allgemeine Ausführungen beschränkt und kaum personalisierte Vorwürfe gegenüber den einzelnen angeklagten Anwält*innen enthält. Der Prozess wurde im September 2018 eröffnet, Dezember 2018 weitergeführt und im März 2019 abgeschlossen. Am 19. März 2019 lehnte es der vorsitzende Richter ab, am folgenden Tag Anträge der Verteidigung auf weitere Abklärungen und Beweismassnahmen überhaupt erst entgegenzunehmen. Als Reaktion auf das in Folge gestellte Ausstandsbegehren, schloss der Vorsitzende am 20. März 2019 die Angeklagten und ihre Verteidigung aus dem Gerichtssaal aus – ohne die letzten Worte der Beschuldigten gehört zu haben, eröffnete er sein Urteil in faktischer Abwesenheit der Betroffenen und ihrer Verteidiger*innen. (Auszug aus «Verteidigung auf der Anklagebank: 159 Jahre, 1 Monat und 30 Tage Haft», vorwärts, 26. April 2019)
[3] «Politische Justiz in der Türkei. Eine Einordnung der KCK-Verfahren», Forum Recht 04/16
[4] Bericht «Fact-finding mission on CHD’s trials», www.eldh.eu
[5] «Lawyers on hunger strike near death», www.eldh.eu