Medienmitteilung des Bündnisses unabhängiger Rechtsarbeit im Asylbereich

8. Oktober 2020

Eine Auswertung des «Bündnis unabhängiger Rechtsarbeit» zeigt: Das Verfahrenstempo im umstrukturierten Asylverfahren ist zu hoch und der staatlich finanzierte Rechtsschutz funktioniert nur ungenügend.

buendnisunabhaengigerrechtsarbeit

Der Asylbereich wurde am 1. März 2019 mit der Neustrukturierung wesentlich verändert. Das Hauptziel der Neuerungen war die Beschleunigung der Verfahren, welche durch die zentralisierte Unterbringung der asylsuchenden Personen und der Verkürzung sämtlicher Fristen erreicht werden sollte. Im Sinne der Rechtsstaatlichkeit wurden zudem staatlich finanzierte Rechtsvertreter*innen (sog. Rechtsschutz) eingeführt, welche die rechtliche Vertretung aller Asylsuchenden sicherstellen sollen. Nachdem das neue Asylverfahren nun seit über einem Jahr in Kraft ist, zieht das Bündnis unabhängiger Rechtsarbeit basierend auf einer qualitativen und quantitativen Auswertung eigener Daten sowie öffentlich zugänglichen Statistiken Bilanz.

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Die zentralen Erkenntnisse sind die Folgenden:

Das Tempo im erstinstanzlichen Verfahren ist zu hoch. Dies führt dazu, dass die Asylgründe – insbesondere die medizinische Situation – seitens des Staatssekretariats für Migration (SEM) oft nur ungenügend abgeklärt werden (Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes), was durch die hohe Rückweisungsquote des Bundesverwaltungsgerichts belegt ist (Erfolgsquote von 24% im beschleunigten Verfahren). Teil dieses Problems ist, dass das SEM lediglich 18% der Verfahren vom beschleunigten ins erweiterte Verfahren überführt, statt wie ursprünglich vorgesehen 40%.
Die Mandatsniederlegung durch den staatlich finanzierten Rechtsschutz erfolgt zu häufig und oft zu Unrecht. Dies ergibt sich zum einen aus den tiefen Beschwerdequoten in den Bundesasylzentren (12.5%), verbunden mit den zahlreichen erfolgreich geführten Beschwerden von unabhängigen Rechtsvertretungen (Erfolgsquote von 23%). Zum anderen ist zu beachten, dass ein hoher Anteil an Beschwerden vom Bundesverwaltungsgericht selber als «nicht aussichtslos» beurteilt wurden und folglich vom staatlichen Rechtsschutz hätten geführt werden müssen (59% bei den vom Bündnis geführten Beschwerden).
Dies führt in Kombination mit den kurzen Beschwerdefristen und der oft peripheren Lage der Bundesasylzentren dazu, dass Betroffene ihre ohnehin übereilt getroffenen Entscheide mangels Zugangs zu externer Rechtsberatung nicht weiterziehen können. Obwohl staatliche Mittel für eine lückenlose Rechtsvertretung bestimmt wären, müssen (zu) häufig andere Organisationen einspringen und die zu Unrecht niedergelegten Mandate übernehmen – konkret erfolgen über 50% der eingereichten Beschwerden nicht durch den staatlichen Rechtsschutz.
Ob der staatlich mandatierte Rechtsschutz eine Beschwerde vor Bundesverwaltungsgericht erhebt, variiert regional äusserst stark. Die Aussicht einer asylsuchenden Person auf eine Beschwerde ist bspw. in der Romandie rund viermal höher als in der Ostschweiz.
Der Zeitdruck führt auch beim Bundesverwaltungsgericht zu einer Reduktion der Qualität der Urteile und zu anschliessenden Revisionsverfahren, was anhand einzelner Beispiele aufgezeigt wird.


Aufgrund dieser und weiterer Feststellungen drängen sich zwingend Anpassungen am neuen Asylsystem auf. Konkret fordert das Bündnis u.a.:

  • die Einhaltung des Untersuchungsgrundsatzes durch das SEM und damit verbunden die Verlängerung aller erstinstanzlichen Behandlungsfristen;
  • eine sorgfältige(re) Triage während des Asylverfahrens – komplexe Fälle müssen konsequent ins erweiterte Verfahren überführt werden, sofern sie nicht sofort positiv entschieden werden können;
  • die Verlängerung der gesetzlichen Beschwerdefrist bei materiellen Asylentscheiden im beschleunigten Verfahren sowie bei Nichteintretensentscheiden;
  • die Verlängerung der Behandlungsfristen des Bundesverwaltungsgerichts;
  • die Offenlegung der Begründung zur Mandatsniederlegung durch die Rechtsvertretung, verbunden mit der Etablierung einer weniger restriktiven und dem Willen des Gesetzgebers entsprechenden Mandatsniederlegungspraxis.

Für Rückfragen

Melanie Aebli, Rechtsanwältin, Demokratische Juristen und Juristinnen Schweiz – 078 775 87 01
Aldo Brina – Centre social protestant Genève – 079 907 59 40
Moreno Casasola – Freiplatzaktion Basel – 078 612 75 17
Lea Hungerbühler, Rechtsanwältin – Verein AsyLex – 079 746 71 82
Corinne Reber – Freiplatzaktion Zürich –  078 872 01 94
Noémi Weber, Geschäftsleiterin – Schweizerische Bobachtungsstele für Asyl- und Ausländerecht – 076 467 05 03

Das Bündnis unabhängiger Rechtsarbeit im Asylbereich ist ein Zusammenschluss verschiedener Beratungsstellen, Organisationen, Anwält*innen und engagierter Einzelpersonen, die Rechtsarbeit im Asylbereich leisten. Alle im Bündnis Vertretenen eint, dass sie sowohl im beschleunigten wie im erweiterten Verfahren ausserhalb des staatlichen Rechtsschutzes agieren. Teil des Bündnisses sind u.a die Freiplatzaktion Zürich, die Freiplatzaktion Basel, das Centre social protestant (CSP), Genève, das Solidaritätsnetz Bern, die Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht SBAA, die Demokratischen Juristen und Juristinnen Schweiz, AsyLex sowie verschiedene Einzelpersonen.