Seit Oktober 2016 sind die neuen strafrechtlichen Bestimmungen zur Umsetzung der sog. «Ausschaffungsinitiative» in Kraft. Damit droht selbst bei geringfügigen Delikten eine langjährige Landesverweisung. Aufgrund dieser gravierenden Folge eines Strafverfahrens ist in Fällen einer drohenden Landesverweisung ex lege eine notwendige Verteidigung zu bestellen (Art. 130 lit. b StPO).

Entgegen diesem Grundsatz sehen die mit dem Inkrafttreten der Novelle publizierten Empfehlungen der Schweizerischer Staatsanwälte-Konferenz (SSK) vor, dass trotz Verdachts auf eine Katalogstraftat kein Fall einer notwendigen Verteidigung vorliege, wenn eine Freiheits- oder Geldstrafe von maximal 6 Monaten droht sowie weitere begünstigende Faktoren hinzutreten (gültige Aufenthalts- oder Niederlassungsbewiligung, keine Vorstrafe für eine Katalogstraftat oder keine Freiheitsstrafe über 6 Monaten während 5 Jahren). Diesfalls gehen die Empfehlungen der SSK von einem Härtefall aus, weshalb auf eine Lan-desverweisung und damit auch auf eine notwendige Verteidigung zu verzichten sei und die Sache im Strafbefehlsverfahren erledigt werden könne.

Machtzuwachs bei der Staatsanwaltschaft

Eine Erledigung im Strafbefehlsverfahren impliziert somit, dass die Voraussetzungen für eine Landesverweisung nach Ansicht der Staatsanwaltschaft nicht erfüllt sind, wobei ein rechts-kräftiger Strafbefehl auch für Migrationsbehörden eine Sperrwirkung entfaltet (vgl. FI-OLKA/VETTERLI, Plädoyer 5/2016, 88). Wer gestützt auf diese Überlegungen aber den Ver-zicht auf eine notwendige Vereidigung postuliert, verkennt, dass die Staatsanwaltschaft eine Sache mit dem Hinweis auf einen nicht liquiden Sachverhalt oder die Strafhöhe ohne weiteres in einem späten Verfahrensstadium noch vor Gericht bringen kann (Art. 352 StPO i.V.m. 324 StPO), wo von Amtes wegen eine Landesverweisung geprüft werden muss. Folglich schwebt im Rahmen des Vorverfahrens stets das Damoklesschwert der Anklageerhebung – mithin das Risiko einer Landesverweisung – über einer/einem Beschuldigten ohne Schweizer Staatsbür-gerschaft. Damit kann ein erheblicher Kooperationsdruck auf diese/diesen ausgeübt werden. Vor diesem Hintergrund erscheint eine notwendige Verteidigung unabdingbar. Hinzu kommt, dass ein Strafbefehl nur einen unverbindlichen Urteilsvorschlag darstellt. Ergeht ein Strafbe-fehl, wird kaum eine Ausländerin und kaum ein Ausländer das Risiko einer ungünstigeren Beurteilung durch ein Gericht (reformatio in peius mit Landesverweis) in Kauf nehmen wol-len; der Strafbefehl bleibt unangefochten. Die Staatsanwaltschaft erhält somit ausseror-dentlich viel Macht gegenüber der/dem Beschuldigten – auch deshalb erscheint ein Verzicht auf eine notwendige Verteidigung nicht adäquat.

Notwendige Korrektur

Es liegt in der Verantwortung der Gerichte, keine allzu hohen Schranken an die Anordnung einer notwendigen Verteidigung zu setzen. Einzusetzen ist die notwendige Verteidigung ab dem Zeitpunkt, in dem erkennbarerweise ein Tatverdacht auf eine Katalogtat fällt bzw. die konkrete Möglichkeit einer Landesverweisung droht (Art. 66a und Art. 66abis ; StGB; s.a. RUCKSTUHL, Plädoyer 5/2016, 119). In Anlehnung an die Lehre und Praxis zu Art. 130 lit. b StPO scheint es richtig, eine bereits relativ entfernte Möglichkeit einer Landesverweisung genügen zu lassen (MÜNCH/DE WECK, Anwaltsrevue 4/2016, 168 m. Hinw.). Demnach kann auch in Konstellationen, in denen die Staatsanwaltschaft prima facie davon ausgeht, der/dem Beschuldigten einen unverbindlichen Urteilsvorschlag in Form eines Strafbefehls unterbreiten zu können, eine notwendige Verteidigung nicht ohne weiteres verwehrt werden. Damit ist auch der Verfahrensökonomie gedient: Beweise, die trotz erkennbarer Notwendigkeit ohne Bestellung einer notwendigen Verteidigung erhoben wurden, sind grundsätzlich ungültig (Art. 131 Abs. 3 StPO).

Markus Husmann, Vorstand DJS

Text erschienen im plädoyer 1/2017