Bei der Anwendung des Rechts spielen Vorurteile eine grosse Rolle. Bekanntes Beispiel ist das «Racial Profiling», welches zu häufigeren Kontrollen von People of Colour durch die Polizei führt. Aber auch vor Gericht und in der Verwaltung sind Stereotypisierungen allgegenwärtig und führen dazu, dass Entscheidungen diskriminierend sein können. Die juristische Ausbildung setzt dem nichts entgegen, sondern hilft vielmehr mit, Vorurteile noch zu verstärken.

Jurist*innen sind oft in einer Position, in der sie über Schicksale anderer Menschen bestimmen können. In einer strukturell diskriminierenden Gesellschaft muss – um sich bei Entscheiden nicht durch Vorurteile leiten zu lassen – eine Reflexion der verinnerlichten Stereotypen und deren Einflüsse auf das Recht stattfinden.

Diese Reflexion muss bereits in der Ausbildung beginnen. Denn im rechtswissenschaftlichen Studium geschieht die juristische Sozialisation. Dadurch wird man zur Jurist*in. Eine besondere Rolle spielen dabei die Übungsfälle, denn durch diese werden die eingeübten Normen erstmals ein Stück in die Realität überführt.

Die Kritischen Jurist*innen Bern haben sich daher entschlossen, die an der Universität Bern verwendeten Fälle zu untersuchen: Qualitativ betrachtet zeigen sich spannende Tendenzen: Männer haben ständig das Bedürfnis, ihre fremdgehende Frau oder deren Liebhaber umzubringen, verlieben sich aber selbst ganz automatisch in jüngere Frauen. Working class moms können ihre Konflikte selbstverständlich nur mit Gewalt lösen. Und während viele Männer eine Vorliebe für schnelle Luxusautos hegen, kaufen Frauen am Laufmeter Parfums.
Das Problem zeigt sich aber nicht nur in einzelnen Beispielen, sondern auch, wenn das Ganze quantitativ betrachtet wird: Während über 70 Prozent der dargestellten Personen Männer sind, werden trans- oder nichtbinäre Personen kaum porträtiert. Frauen erscheinen deutlich seltener als Männer als aktiv handelnde Akteur*innen – dafür häufiger in einem Abhängigkeitsverhältnis. Zwar werden die Geschlechter etwa ähnlich oft in Machtpositionen dargestellt, dennoch werden Männernamen etwa doppelt so oft mit einem Beruf verknüpft als Frauennamen, was einen prägenden Effekt auf die Wahrnehmung der Person als berufstätig hat. Betrachten wir schliesslich die Sprache, zeigt sich auch dort, dass in weniger als 15 Prozent aller Fälle überhaupt geschlechtergerechte Sprache verwendet wird (im Vergleich mit juristischen Zeitschriften ist dieser Wert allerdings bereits erfreulich).

Durch eine sorgsame und respektvolle Verwendung von Sprache könnten sich Stereotypen aufbrechen lassen und diskriminierungsfreie und emanzipatorische Bilder vermittelt werden. Dies wird so offenkundig unterlassen, dass es kaum ein Versehen sein kann. Die erwähnten Übungsfälle sind dafür nur ein Symptom: Im fakultären Gleichstellungsplan werden Lehrinhalte und Sprachverwendung nicht erwähnt. Ein Nebenfach oder fakultätsexterne Veranstaltungen müssen nicht besucht werden, niemand muss sich mit Gedanken oder Student*innen anderer Fächer auseinandersetzen. Und schliesslich wird die durch Gesetze ausgeübte Macht schon gar nicht thematisiert, sondern nur die technische Anwendung der Normen geübt. Da gibt es gewaltigen Verbesserungsbedarf.

Die gesamte quantitative Auswertung der Fälle findet sich hier: bit.ly/übungsfälle
Beispiele schlimmer Fallgestaltungen sind hier zu finden: juristenausbildung.tumblr.com

Beni Stückelberger, Kritische Jurist*innen Bern

erschienen im plädoyer 4/2020