Die vom Bundesamt für Statistik (BfS) veröffentlichten Zahlen zur Anwendung der Härtefallklausel bei der Landesverweisung haben heftige Reaktionen ausgelöst. Medien stützen sich unkritisch auf die publizierten Zahlen und Politiker*innen setzen sich öffentlichkeitswirksam in Szene, um eine Verschärfung oder gar Streichung der Härtefallklausel zu fordern. Es äussern sich Journalist*innen und Politiker*innen, die in ihrem beruflichen Alltag kaum mit der Anwendung der strafrechtlichen Bestimmungen zur Landesverweisung zu tun haben. Zur Versachlichung dieser Debatte, die für die betroffenen Personen existenzielle Auswirkungen haben kann, seien daher folgenden Punkte klargestellt:

 

  • 86% ist die relevante Zahl, nicht 58%
    Bei Katalogtaten mit einer Strafe von mehr als sechs Monaten wird gemäss aktueller BfS-Statistik in 86% der Fälle eine Landesverweisung ausgesprochen. Dass bei Strafen von weniger als sechs Monaten in der Regel auf die Landesverweisung zu verzichten ist, ergibt sich aus dem Verhältnismässigkeitsprinzip und aus Gründen der Strafverwaltungsökonomie. Die in den Medien oft wiederholte Zahl von 58%, die auch Strafen von weniger als sechs Monate einschliesst, sagt somit nur die halbe Wahrheit. Bei Taten, die keine Bagatellen darstellen, wird in 86% der Fälle eine Landesverweisung ausgesprochen.
  • Grundrechte lassen sich nicht quantifizieren
    Es ist fraglich, ob die vom BfS publizierten Zahlen auf statistisch brauchbaren Datensätzen beruhen. Bereits jetzt wurden die Zahlen auf kantonaler Ebene in Zweifel gezogen. Der Präsident der Staatsanwältekonferenz und Leitende Staatsanwalt im Kanton Zürich, Beat Oppliger, muss aufgrund von Divergenzen zu den Zahlen im Kanton Zürich bereits eine Überprüfung der Daten des BfS fordern. Dies ist mehr als peinlich, nachdem bereits vor zwei Jahren Statistiken veröffentlich worden sind, die infolge schlechter Datenlage zurückgezogen werden mussten. Neben diesem mehr als fragwürdigen Vorgehen des BfS zu einem solch umstrittenen politischen Thema gibt es aber noch ein tiefer liegendes Problem: Die Härtefallklausel ist eine Konkretisierung des Verhältnismässigkeitsprinzips und des Grundrechtsschutzes in diesem Land. Grundrechte lassen sich aber nicht quantifizieren. Sie schützen jede einzelne Person und müssen im jedem Falle angewendet werden. Hierbei darf im Einzelfall keine Rolle spielen, in wie vielen Fällen die Härtefallklausel bereits angewendet worden ist. Zahlen alleine sagen also nichts über die rechtskonforme Anwendung der Bestimmungen zur Landesverweisung und zur Härtefallklausel aus.
  • Bagatellen werden im Strafbefehlsverfahren behandelt
    Empörte Politiker*innen fordern nun, jeder Fall mit einer potentiellen Landesverweisung sei zwingend vor ein Gericht zu bringen. Sowohl die Gerichte als auch die Staatsanwaltschaften lehnen dies ab. Die Justiz ist bereits jetzt am Anschlag und Gerichtsverfahren bringen entsprechend hohe Kosten mit sich. Politiker*innen, die dies fordern, müssten folglich auch bereit sein, genügend Ressourcen für die aufwendigeren Verfahren und die Strafverteidigung bereitzustellen.
  • Die Härtefallklausel ist demokratisch legitimiert
    Das Stimmvolk und die Stände haben sowohl die Durchsetzungsinitiative als auch die Selbstbestimmungsinitiative abgelehnt. Damit haben sie zum Ausdruck gebracht, dass sie keinen Wegweisungsautomatismus wollen. Auch haben sie zum Ausdruck gebracht, dass sie eine grund- und völkerrechtskonforme Wegweisungspraxis wollen. Die Härtefallklausel stellt eine Konkretisierung dieses Willens dar. Wer sie angreift, stellt den demokratischen Prozess in diesem Lande in Frage.
  • Die Härtefallklausel ist der letzte rechtsstaatliche Anker einer bereits sehr restriktiven Praxis
    Die Härtefallklausel konkretisiert das Verhältnismässigkeitsprinzip und die Anwendung der Grundrechte im Einzelfall. Sie stellt damit keine Relativierung der Strafjustiz dar, sondern ist die allerletzte Garantie für eine rechtsstaatliche Strafjustiz. Die Politiker*innen, die nun fordern, die Klausel müsse restriktiver angewendet oder gar ganz gestrichen werden, stellen die rechtsstaatliche Anwendung der Landesverweisung an sich in Frage.

Im Jahr 2019 wurden 1980 Personen des Landes verwiesen. Dies sind weit mehr als die von der SVP im Abstimmungsbüchlein zur Ausschaffungsinitiative geforderten 1500 Ausschaffungen pro Jahr. Bereits jetzt werden Personen des Landes verwiesen, die hier geboren oder aufgewachsen sind. Bereits jetzt werden Personen des Landes verwiesen, die hier ihr persönliches Umfeld, ihre Familie, ihre Freunde, ihren Beruf oder ihre Ausbildung haben. Bereits jetzt sind Personen von der Wegweisung betroffen, die noch nie im Land ihrer Staatsangehörigkeit gelebt haben. Bereits jetzt sind Kinder von solchen Entscheiden betroffen, die prägende Jahre ihrer Kindheit und Jugend ohne einen Elternteil bestreiten werden müssen. Bereits jetzt greifen Landesverweisungen in massiver Weise in die Leben der Weggewiesenen, ihrer Freunde, ihrer Arbeitgeber*innen, ihrer Ehepartner*innen und ihrer Kinder ein. Eine weitere Verschärfung oder gar ein Automatismus würde noch mehr Personen in unverhältnismässiger und rechtswidriger Weise treffen.

Wir als Anwält*innen und Jurist*innen, die im beruflichen Alltag mit der Landesverweisung und den von ihr betroffenen Personen zu tun haben, lehnen eine weitere Verschärfung der bereits jetzt sehr restriktiven Praxis kategorisch ab. Die Schweiz würde nicht nur rechtswidrige Entscheide – mit allen negativen sozialen Konsequenzen – in Kauf nehmen, sie würde vor allen grundlegende Elemente ihrer Rechtsstaatlichkeit preisgeben.

Des Weiteren verweisen wir auf die Ausführungen von "Unser Recht" vom 22. Juli 2020, denen wir uns anschliessen: "Härtefallklausel: Sowohl grundsätzlich als auch fallbezogen beurteilen"