Basel, 23. August 2021

Medienmitteilung des Bündnisses unabhäniger Rechtsarbeit im Asylbereich

Das «Bündnis unabhängiger Rechtsarbeit im Asylbereich» ist ein Zusammenschluss verschiedener Beratungsstellen, Organisationen, Anwält*innen und engagierter Einzelpersonen, die Rechtsarbeit im Asylbereich leisten. Als unabhängige Akteur*innen in diesem Bereich sehen wir es als unsere Aufgabe, die Umsetzung und Evaluation des neuen Asylverfahrens kritisch zu beobachten und unsere eigenen Erkenntnisse aus der Arbeit mit unseren Mandant*innen mit den Erkenntnissen des Staatssekretariats für Migration (SEM) abzugleichen.buendnisunabhaengigerrechtsarbeit

Das Bündnis unabhängiger Rechtsarbeit hat im Oktober 2020 seine wichtigsten Erkenntnisse zum neuen Asylverfahren bereits als Auswertung der bis dahin vertretenen Fälle veröffentlicht. Das SEM hat heute seine Erkenntnisse aus der externen Evaluation des neuen Asylverfahrens publiziert. Viele der Erkenntnisse und Befürchtungen des Bündnisses haben sich bestätigt.

 

  1. Unvollständige Evaluation

Einleitend ist festzuhalten, dass einige zentrale Aspekte in der Evaluation des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte (SKMR) nicht untersucht wurden, weshalb sich Fragen zur Aussagekraft stellen. So gab es keine Untersuchung über die Erkennung und Behandlung von Asylsuchenden, die zu den besonders vulnerablen Personen gehören. Auch das Dublin-Verfahren sowie das erweiterte Verfahren wurden nicht evaluiert. Das Bündnis erachtet dies insbesondere als problematisch, da gemäss unserer Erfahrung in diesen Bereichen die meisten Probleme auftreten und vor der Umsetzung des neuen Asylverfahrens diesbezüglich auch die grössten Bedenken bestanden.

Stossend ist aus unserer Sicht insbesondere, dass es sich bei der Evaluation um eine reine Dossier-Analyse handelt und ausschliesslich Interviews mit Fachpersonen geführt wurden. Aus Sicht des Bündnisses wäre es jedoch zentral, die Sichtweise der Betroffenen mittels Interviews bei der Evaluation einzubeziehen. Das politische Versprechen vor der Einführung des neuen Verfahrens war unter anderem, dass bei den Betroffenen die Akzeptanz eines negativen Asylentscheides erhöht werde, indem das neue Verfahren durch die Begleitung einer Rechtsvertretung transparenter werde. Ob dies wirklich der Fall ist und wie gut sich die betroffenen Personen durch ihre Rechtsvertretung im neuen Asylverfahren vertreten fühlen, ist unserer Ansicht nach aber nicht feststellbar, ohne die Betroffenen zu fragen. Die Meinung der tatsächlichen Expert*innen des neuen Asylverfahrens – die Asylsuchenden – wurde nicht eingeholt.

Forderung:

  • Das Bündnis fordert in einer nächsten Evaluation den Einbezug aller Verfahrensarten, die Untersuchung der Situation von besonders vulnerablen Personen und insbesondere den Einbezug der Betroffenen.
  1. SEM: Hohes Tempo führt zu Fehlentscheiden

Aus Sicht des Bündnisses ist das Verfahrenstempo im neuen Asylverfahren deutlich zu hoch. Die Folge davon sind Fehler, welche existenzgefährdende Auswirkungen auf die asylsuchenden Personen haben können.

In der Evaluation des SKMR wurden in 40 von 120 Dossiers des SEM Fehler gefunden, die einen bedeutsamen Einfluss auf die Entscheidqualität hatten. Dabei handelte es sich gemäss Evaluation des SKMR um teilweise «gravierende Mängel» wie ungenügende Sachverhaltsabklärung, ungenügende Würdigung der Stellungnahme zum Entscheidentwurf, unzutreffender Rechtsanwendung und mangelhafter Begründungsqualität. Davon fällt die mangelhafte Sachverhaltsabklärung ganz besonders ins Gewicht. Es ist an dieser Stelle zu erinnern, dass die korrekte und ausreichende Erhebung des Sachverhalts das zentrale Element im Asylverfahren darstellt. Der Sachverhalt – und nur dieser – ist entscheidrelevant. Die unvollständige oder gar falsche Erhebung des Sachverhalts (z.B. indem die asylsuchende Person zu ihren Flucht- und Reisegründen zu wenig ausführlich befragt wird, medizinische Abklärungen unterlassen werden, oder Fakten und Aussagen falsch interpretiert werden) führt zwangsläufig zu Fehlentscheiden. Bezeichnenderweise verortet das SKMR den Ursprung der ungenügenden Sachverhaltsabklärung beim Verfahrenstempo bzw. beim Zeitdruck, unter dem die Mitarbeitenden des SEM stehen. Beim SEM scheint ein Erwartungsdruck zu bestehen, möglichst viele Fälle im beschleunigten Verfahren zu behandeln – auf Kosten der Qualität.

Alarmierend ist sodann, dass das SKMR die juristische Qualität der SEM-Entscheide nur als «zufriedenstellend» qualifiziert (und nicht etwa als «gut» oder sogar «sehr gut»). Einzelne Entscheide des SEM waren gemäss Evaluation mit «gröberen Mängeln» behaftet oder gar «fehlerhaft». Die Bemängelung der Sachverhaltsabklärung und die zurückhaltende Bewertung der juristischen Qualität der Entscheide lassen somit in grundlegender Weise an der Qualität der Arbeit des SEM zweifeln. Vor diesem Hintergrund überrascht es auch nicht, dass das SKMR die Qualität der im beschleunigten Verfahren getroffenen Entscheide als insgesamt nur «zufriedenstellend» und nicht etwa als «gut» oder sogar «sehr gut» qualifiziert hat.

An dieser Stelle ist jedoch daran zu erinnern, dass im Asylverfahren nichts Geringeres als die Existenz der asylsuchenden Personen auf dem Spiel steht. Anders als in anderen Rechtsverfahren können Fehlentscheide des SEM somit eine Gefährdung der Existenz und des Lebens der Betroffenen zur Folge haben. Es gilt somit – im Sinne einer Maxime – um jeden Preis jegliche Fehler zu verhindern. Offenbar werden beim SEM jedoch Fehler zu leichthin in Kauf genommen, wodurch der Schweizer Staat in fahrlässiger Weise Menschenleben gefährdet und diese zu verantworten hat.

Forderungen:

  • Im beschleunigten Verfahren sollen nur Fälle behandelt werden, die offensichtlich einen positiven Asylentscheid oder zumindest eine vorläufige Aufnahme
  • Ausführliche, auf Verstehen ausgerichtete, Anhörungen aller asylsuchenden Personen
  • Keine Einschränkung bei medizinischen Abklärungen und Behandlungen
  • Monitoring der Sachverhaltserhebung und der Entscheidqualität
  1. Rechtsvertretung: Problematik von Handwechsel und Rollenverständnis

Gemäss SKMR-Evaluation lassen sich in der Arbeit der Rechtsvertreter*innen Handwechsel von Fällen nicht vermeiden. Diese würden nur bei Unbegleiteten Minderjährigen Asylsuchenden (UMA) und bei besonders verletzlichen Personen verhindert. Der Handwechsel bedeutet, dass ein Fall von mehreren Rechtsvertretenden behandelt wird. Die Folge davon ist ein unvermeidlicher Verlust von Vertrauen der asylsuchenden Person einerseits und von Fall-Know-How andererseits. Das Vertrauensverhältnis zwischen Asylsuchenden und ihrer Rechtsvertretung ist jedoch eine äusserst wichtige Basis für ein qualitativ gutes Vertretungsverhältnis und die Vulnerabilität von asylsuchenden Personen kann ohne dieses Vertrauensverhältnis oft nicht festgestellt werden. Insbesondere Personen mit traumatischen Erfahrungen (Folter, sexuelle Gewalt) sind oft nicht in der Lage, einer fremden Person von ihren Erlebnissen zu berichten. Handwechsel beeinträchtigen somit unweigerlich die Qualität des Vertretungsverhältnisses.

In der Evaluation des SKMR wurde verschiedentlich darauf hingewiesen, dass das Rollenverständnis der Rechtsvertreter*innen nicht einheitlich geklärt zu sein scheint. Dies war bereits bei der Einführung des neuen Asylgesetzes ein Kritikpunkt, insbesondere ihre gegen aussen nicht erkennbare Unabhän- gigkeit. Diese Befürchtung hat sich durch die nun vorliegende Evaluation bestätigt. Zu betonen ist, dass nicht entscheidend ist, ob die Rechtsvertreter*innen ihre Unabhängigkeit wirklich wahren oder nicht; entscheidend ist einzig der Eindruck gegenüber ihren Mandant*innen, weil der Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zwischen Mandant*in und Rechtsvertreter*in entscheidend davon abhängt. So sieht sich ein Teil der Rechtsvertreter*innen einzig als «Watchdog» für die Einhaltung der Verfahrensrechte ihrer Klient*innen und als Hilfe bei der Erstellung des Sachverhalts, während andere Rechtsvertreter*innen sich wirklich als Interessenvertretung in einem anwaltlichen Sinne für ihre Mandant*innen sehen. Da gemäss den Vereinbarungen des SEM mit den Leistungserbringern die Berufsregeln für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte anwendbar sind und in diesen klar festgehalten ist, dass Rechtsvertre- ter*innen (bzw. Anwält*innen) ihre Tätigkeit «unabhängig, in eigenem Namen und auf eigene Verant- wortung auszuüben haben» und hierfür klarerweise auch die subjektive Wahrnehmung der Vertretenen miteinbezogen werden muss, kann das Prinzip, dass es sich um ein nichtstrittiges Verfahren handelt, nicht herhalten, um die Rechtsvertreter*innen zu «Mithelfenden bei der Erstellung des Sachverhalts» zu degradieren. Die grossen Unterschiede in der Chancenbeurteilung, ob eine Beschwerde erhoben wird oder nicht, zeigen deutlich auf, dass dieses Rollenverständnis von Region zu Region sehr unterschiedlich ist.

Beunruhigend in Bezug auf das hohe Verfahrenstempo ist schliesslich, dass im Rahmen der Evaluation einzelne Rechtsvertreter*innen anführten, auf das Erheben einer Beschwerde verzichtet zu haben, weil sie nicht ausreichend Zeit dazu gehabt hätten. Zwar nimmt das SKMR diesen Punkt in der Gesamtbeurteilung nicht auf, einzelne Aussagen sind dennoch ernst zu nehmen.

Forderungen:

  • Handwechsel während dem Asylverfahren sind zu vermeiden und die Fristen sind so anzupassen, dass dies in keinem Fall nötig ist
  • Verlängerung der Beschwerdefristen in allen Verfahrensarten auf die üblichen 30 Tage
  • Verlängerung der Frist der Stellungnahme zum Entscheidentwurf auf 10 Tage
  • Klärung und Vereinheitlichung der Praxis zur Beschwerdeerhebung zum Kriterium der Aussichtlosigkeit mit dem Grundsatz «Im Zweifel für eine Beschwerde»
  1. Spezifisch: Prekäre Situation in den Zentren ohne Verfahrensfunktion

Schliesslich ist im Speziellen noch auf die äusserst prekäre Situation in den Bundesasylzentren ohne Verfahrensfunktion einzugehen. Diese Zentren liegen oft an äusserst peripherer Lage, womit den Asylsuchenden oft die Möglichkeit genommen wird, sich für Beratung oder Information an externe Stellen zu wenden. Umso wichtiger wäre die Rolle der mandatierten Rechtsvertreter*innen. Es ist daher stossend, dass diese nur so selten in den Zentren anwesend sind und die Kommunikation häufig nur per Videokonferenz stattfinden kann. Insbesondere die Tatsache, dass Entscheide von der Rechtsvertretung per Videokonferenz eröffnet werden, ist nicht hinnehmbar. Die betroffenen Asylsuchenden befinden sich nach Erhalt eines negativen Entscheids in einer äusserst vulnerablen Situation und sind in diesen sehr abgelegenen Zentren damit vollkommen auf sich alleine gestellt.

Forderungen:

  • Verlegung der Zentren ohne Verfahrensfunktion an weniger abgelegene Standorte
  • Höhere Präsenz (mind. jeweils halbtags) der Rechtsvertretung und Rechtsberatung
  • Shuttle-Busse von den Zentren ohne Verfahrensfunktion zu den Bundesasylzentren mit Verfahrensfunktion und die grösseren naheliegenden Städte