Vor Gericht wegen Beschwerde gegen einen Polizeieinsatz
Am 3. März 2016 nahm die Kantonspolizei mehrere Asylsuchende fest, die in der Matthäuskirche Schutz vor ihrer Ausschaffung nach Italien gesucht haben. Am Abend desselben Tages versammelten sich etwa dreihundert Personen zu einer spontanen Protestkundgebung. Die Polizei setzte mehrmals Gummischrot gegen die Demonstrierenden ein. Mehrere Basler*innen beantragten die Untersuchung des gefährlichen Polizeieinsatzes und machten Aussagen gegenüber der Staatsanwaltschaft. Während das Verfahren gegen die Polizei eingestellt wurde, benutzte die Staatsanwaltschaft die Aussagen der Antragssteller*innen, um gegen sie Strafbefehle wegen Landfriedensbruch zu erlassen. Die Fälle kommen am 24. und 25. September 2020 in Basel vor Gericht. Sie stehen exemplarisch für ein systemisches Problem in der Schweiz: Die aktuellen Strukturen verunmöglichen eine unabhängige Untersuchung von polizeilichem Fehlverhalten und geben den möglichen Opfern kaum Chancen auf ein faires Verfahren.
Mehrere Hundert Personen versammelten sich am 3. März 2016 Uhr an der Matthäuskirche in Basel zu einer Kundgebung. Sie protestierten gegen die Festnahme von Asylsuchenden, die in der besetzten Kirche Schutz vor ihrer Ausschaffung nach Italien im Dublin-Verfahren gesucht hatten. Es kam zu einem Polizeieinsatz, bei dem die Polizei mit Gummischrot in den Demonstrationszug schoss. Bei der Ombudsstelle Basel-Stadt und beim Justiz- und Sicherheitsdepartement Basel-Stadt (JSD) gingen in der Folge mehrere Anzeigen ein, die die Verhältnismässigkeit des Polizeieinsatzes in Frage stellten. Die Meldungen stammten unter anderem von Demonstrant*innen, die von Gummischrot im Gesicht getroffen wurden und nur mit Glück keine schweren Verletzungen erlitten.Die Staatsanwaltschaft lud im Winter 2016 die Antragsteller*innen als «Auskunftspersonen» im Verfahren gegen die Polizei vor. Die Antragsteller*innen machten daraufhin Aussagen über den Verlauf der Demonstration und den Mitteleinsatz der Polizei.Die Staatsanwaltschaft nutzte die Aussagen der «Auskunftspersonen» in der Strafuntersuchung gegen die Polizei daraufhin als Grundlage für den Erlass von Strafbefehlen wegen Landfriedensbruch und mehrfacher Störung von öffentlichen Betrieben. Die Betroffenen legten gegen die Strafbefehle Einsprache ein – der Fall kommt nun vor Gericht.«Dass die Staatsanwaltschaft die Aussagen aus dem Verfahren gegen Angehörige der Polizei gegen die ursprünglichen Antragstellenden verwendete, ist rechtsstaatlich bedenklich», sagt Christian von Wartburg, einer der involvierten Verteidiger*innen und Vorstandsmitglied der Demokratischen Jurist*innen Basel. Den Betroffenen wurde bei ihrer Befragung weder ein Delikt vorgehalten, noch wurden sie darauf hingewiesen, dass es aufgrund ihrer Aussagen zur Eröffnung eines Verfahrens gegen sie kommen könnte. Dem Strafgericht ging diese Vorgehensweise der Staatsanwaltschaft zu weit. Es hiess einen Antrag der Betroffenen gut, Aussagen, die sie im Verfahren gegen die Polizeiangehörigen gemacht hatten, in ihrem eigenen Verfahren nicht gegen sie zu verwenden.
Keine rechtsstaatlich angemessenen Mittel gegen Polizeigewalt und Polizeiwillkür
Dieser Fall ist ein gutes Beispiel dafür, was Menschenrechtsorganisationen und internationale Gremien schon lange kritisieren: Bei Untersuchungen von polizeilichem Fehlverhalten sitzen die Betroffenen am kürzeren Hebel. Die operationelle Nähe von Staatsanwaltschaft und Polizei ist ein systemisches Problem in der Schweiz, das unabhängige Untersuchungen erheblich erschwert oder gar verunmöglicht.Die Schweiz sieht sich seit 2002 von diversen internationalen Gremien regelmässig mit der Forderung konfrontiert, Massnahmen einzuführen, welche die unabhängige Untersuchung von polizeilichem Fehlverhalten sicherstellen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen. So geschehen 2017 im Rahmen der allgemeinen periodischen Überprüfung der Schweiz vor dem UNO-Menschenrechtsrat1. Die Schweiz hat es trotz anhaltender Kritik verpasst, unabhängige Untersuchungs- und Strafverfolgungsinstanzen bei polizeilichen Angelegenheiten zu schaffen, an die sich alle Bürger*innen wenden können ohne Repressalien zu befürchten – auch Polizist*innen, die Fehlverhalten ihrer Kolleg*innen zur Anzeige bringen wollen.«Es geht nicht nur um Demonstrierende, die ihr Grundrecht auf Meinungsäusserung wahrnehmen. Es geht auch um alltägliche Situationen mit der Polizei wie etwa Personen- oder Verkehrskontrollen, die aus dem Ruder laufen. Wir müssen uns fragen: Wer schaut der Polizei auf die Finger und wie gehen wir als Gesellschaft mit möglichem polizeilichem Fehlverhalten um?», betont von Wartburg.
Die Demokratischen Jurist*innen Basel fordern die Schaffung einer unabhängigen Beschwerdestelle zur Untersuchung von Polizeieinsätzen. Es muss möglich sein, Aussagen im Rahmen einer Untersuchung von polizeilichen Einsätzen zu machen, ohne dass die Aussagen anschliessend als Grundlage für ein Strafverfahren gegen die Anzeigesteller*innen verwendet werden. Ansonsten ist zu befürchten, dass kaum eine Person dazu bereit ist, die Untersuchung von polizeilichen Einsätzen einzufordern und der Einsatz unverhältnismässiger Gewalt durch die Polizei straflos bleibt.
Der Prozess beginnt am Donnerstag 24. September 2020 um 08.15 Uhr am Basler Strafgericht Für die Verhandlung sind zwei Tage angesetzt.