Änderung des Ausländer- und Integrationsgesetzes (2022/79); Pa Iv. Bei häuslicher Gewalt die Härtefallpraxis nach Artikel 50 AIG garantieren
hier finden Sie die eingereichte Vernehmlassung als pdf
Opfer häuslicher Gewalt mit Migrationshintergrund leben häufig mit der Angst, ihren Aufenthaltstitel zu verlieren, sobald sie sich von der Person trennen, die ihnen gegenüber Gewalt ausübt, wenn ihr Aufenthaltstitel direkt an diese Person gebunden ist. Der wichtigste Schritt zum Schutz vor häuslicher Gewalt besteht jedoch oftmals in der Trennung. Die DJS begrüssen vor diesem Hintergrund die Grundzüge von Art. 50 AIG und sehen darin die Chance, einen konsequenten Opferschutz unabhängig vom Aufenthaltstitel durchzusetzen.
Die DJS begrüssen insbesondere, dass alle Opfer häuslicher Gewalt, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus, einen Anspruch auf Erteilung und Verlängerung ihres Aufenthaltstitels haben. Damit wird die Möglichkeit geschaffen, allen Opfern häuslicher Gewalt tatsächlichen Schutz zu bieten, was die DJS vor dem Hintergrund der Rechtsgleichheit sehr befürworten. In diesem Sinne ist es auch wichtig – wie vorgeschlagen – von häuslicher anstatt von ehelicher Gewalt zu sprechen und auch Konkubinatspartner*innen und nicht nur Ehegatt*innen zu schützen.
Auch begrüssen die DJS im Sinne der Rechtsgleichheit, dass aufgrund der Erweiterung der Bewilligungsansprüchen die Möglichkeit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten i.S.v. Art. 82 BGG geschaffen wird. Damit können fast alle Betroffenen den Rechtsweg komplett ausschöpfen, was die DJS vor dem Hintergrund der Rechtsweggarantie als wichtig und richtig erachtet.
Trotz des grundsätzlich guten Ansatzes der geplanten Änderungen gibt es nach wie vor einige Punkte, welche zu kurz kommen und deshalb in der Folge zur Sprache kommen sollen:
Selbständiger Anspruch von Kindern auf Bewilligungserteilung
Wie bereits ausgeführt, begrüsst die DJS, dass von häuslicher Gewalt und nicht mehr von ehelicher Gewalt gesprochen wird. Nicht nachvollziehbar ist jedoch, dass in Abs. 2 die Kinder nicht mehr explizit erwähnt werden. Dies könnte in der Praxis zu Missverständnissen führen, wo es doch explizites Ziel der Revision ist, auch Kinder vor häuslicher Gewalt zu schützen. Diese müssen unabhängig von einem gewaltbetroffenen Elternteil Anspruch auf eine Aufenthaltsbewilligung haben. Zudem sollte die Möglichkeit bestehen, dass der nicht Gewalt ausübende Elternteil mit den Kindern zusammen Schutz suchen kann, ohne Angst haben zu müssen, dann den Aufenthaltstitel zu verlieren. Ein solcher unabhängiger Anspruch für die Kinder und, daran gebunden, ein abgeleiteter Anspruch für den nicht Gewalt ausübenden Elternteil ist für Konstellationen, in denen sich die häusliche Gewalt nur gegen die Kinder, nicht aber den anderen Elternteil richtet, unabdingbar. Entsprechend schlägt die DJS nachfolgende Formulierung für den Abs. 2 von Art. 50 AIG vor:
«Wichtige persönliche Gründe nach Absatz 1 Buchstabe b können namentlich vorliegen, wenn:
1. Die Ehegattin, der Ehegatte oder das Kind Opfer häuslicher Gewalt wurde; durch die zuständigen Behörden zu berücksichtigende Hinweise sind insbesondere: […]»
Keine Integrationsvereinbarung während der ersten drei Jahre
Gemäss dem erläuternden Bericht zum Vorentwurf des Art. 50 AIG sollen Integrationsvereinbarungen auch während den ersten drei Jahren nach Bewilligungserhalt gemäss Art. 50 AIG abgeschlossen werden können. Dies ist für die DJS nicht nachvollziehbar, da der Wortlaut des Art. 50 Abs. 2bis E-AIG eindeutig ist: Die Integrationskriterien nach Art. 58a Abs. 1 Bst. c und d sollen während drei Jahren nicht geprüft werden. Es besteht die Gefahr, dass die Migrationsbehörden mittels Integrationsvereinbarungen zusätzlichen Druck auf die gewaltbetroffenen Ehegatten oder Kinder ausüben.
Unterstützung durch Sozialhilfe
Zu begrüssen ist, dass nach Art. 50 Abs. 2bis E-AIG der Bezug von Sozialhilfe während einer Karenzfrist von drei Jahren nicht zum Nachteil der betroffenen Person ausgelegt werden darf. Die Unterstützung durch die Sozialhilfe während dieser drei Jahre darf den betroffenen Personen jedoch auch nicht zu einem späteren Zeitpunkt vorgeworfen werden und etwa bei einer zukünftigen Bewilligungsüberprüfung an zu einem späteren Zeitpunkt bezogene Sozialhilfeleistungen angerechnet werden. Der Gesetzestext von Art. 50 Abs. 2bis E-AIG ist daher wie folgt zu ergänzen:
«Wird gemäss Absatz 1 eine Aufenthaltsbewilligung aus den wichtigen persönlichen Gründen nach Absatz 2 Buchstabe a oder b erteilt, so werden bei deren Verlängerung die Integrationskriterien nach Artikel 58a Absatz 1 Buchstaben c und d während drei Jahren nicht geprüft. Die während dieser drei Jahren nicht erfüllten Kriterien dürfen der betroffenen Person auch nicht zu einem späteren Zeitpunkt vorgeworfen werden. So darf namentlich die Unterstützung durch die Sozialhilfe während dieser drei Jahre an eine spätere Unterstützung durch die Sozialhilfe nicht angerechnet werden.»
Bewilligungserteilung während migrationsrechtlicher Verfahren
Weiter möchte die DJS noch auf ein Problem hinweisen, mit dem sich viele Ausländer*innen im Zusammenhang mit ihrer Bewilligungsverlängerung konfrontiert sehen und das sich auch in den Fällen der Bewilligungserteilung an gewaltbetroffene Ehegatt*innen und Kinder stellt. Die Migrationsbehörden stellen während der Verfahren um Bewilligungsverlängerungen formell keine Aufenthaltsbewilligung aus. Dies wirkt sich sehr nachteilig auf das Leben der betroffenen Ausländer*innen aus. Die fehlende formelle Aufenthaltsbewilligung erschwert die Arbeits- und Wohnungssuche und verunmöglicht Reisen ins Ausland, ausser es wird ein Rückkehrvisum bei der Migrationsbehörde beantragt. Obwohl die Ausländer*innen infolge des laufenden Verfahrens materiell nach wie vor Anspruch auf eine Aufenthaltsbewilligung haben, wird ihnen keine ausgestellt. Diese Praxis wirkt sich erschwerend auf das Leben der Betroffenen aus und ist eine nicht zu rechtfertigende Einschränkung der persönlichen Freiheit. Das AIG ist in Bezug auf diese Frage revisionsbedürftig.
Aufzählung der zu berücksichtigenden Hinweise
Die DJS begrüsst die Aufzählung der durch die Migrationsbehörden zu berücksichtigenden Hinweise auf Gesetzesebene in Abs. 2. Diese Aufzählung darf nicht abschliessend sein, weshalb die Formulierung „insbesondere“ – wie vorgesehen – unbedingt im Gesetz stehen muss.
Erlöschen des Anspruchs von Personen mit einer vorläufigen Aufnahme
Gemäss dem erläuternden Bericht soll der Anspruch auf Erteilung einer Bewilligung gemäss Art. 50 E-AIG von Personen, die durch ihre*n Ehepartner*in eine F-Bewilligung erhalten haben, nur solange gelten, als der Anspruch auf die vorläufige Aufnahme nicht erlischt. Diese Einschränkung für Personen mit einer vorläufigen Aufnahme ist für die DJS nicht nachvollziehbar, da die Bewilligungserteilung gemäss Art. 50 AIG unabhängig von der*dem gewaltausübenden Ehepartner*in zu erteilen ist. Es handelt sich um eine besondere im Gesetz geregelte Härtefallbewilligung. Verliert der*die gewaltausübende Ehepartner*in die eigene Aufenthaltsbewilligung, da der Anspruch auf die vorläufige Aufnahme erlischt, darf dies keine Auswirkungen auf den Bewilligungsanspruch der gewaltbetroffenen Personen haben. Art. 50 AIG gewährt einen unabhängigen Bewilligungsanspruch. Dieser Anspruch muss für alle Ausländer*innen gleichermassen gelten unabhängig davon, ob die gewaltausübende Person ihren Bewilligungsanspruch verliert – sei es wegen nicht Erfüllen der Integrationskriterien (Widerruf gemäss Art. 62 Abs. 1 AIG) oder sei es wegen fehlender Voraussetzung für die Anordnung einer vorläufigen Aufnahme gemäss Art. 83 AIG.
Inklusion des Konkubinats
Mit der Erweiterung der Regelung auf Konkubinatspartner*innen, die im Rahmen des Familiennachzugs in die Schweiz migriert sind, kann die Gleichbehandlung der Beziehung gewährleistet werden. Bislang im Gesetzestext nicht ausdrücklich einbezogen sind Paare, die keiner heterosexuellen Paarbeziehung entsprechen. Wir legen dem Gesetzgeber nahe, dass er im Sinne der Inklusion von LGBTQI+ Menschen den Gesetzestext anpasst und sie als Berechtigte der Regelung gemäss Art. 50 aufführt; zum Beispiel mit der folgenden Ergänzung bei Abs. 4:
Als Konkubinatspaare gelten alle Paarkonstellationen, unabhängig von sexueller Identität und Orientierung (LGBTQI+).
Zulässigkeit der Beschwerde ans Bundesgericht
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten sollte auch für Personen mit einer vorläufigen Aufnahme zulässig sein. Die Tatsache, dass es sich bei der vorläufigen Aufnahme um eine Ersatzmassnahme handelt – wie die Ausnahme im erläuternden Bericht begründet wird – ist kein nachvollziehbarer Grund dafür, dass einer vorläufig aufgenommenen Person nicht der gleiche Rechtsweg offenstehen soll. Mit der Gesetzesrevision soll der Opferschutz – unabhängig vom Aufenthaltsstatus – gestärkt werden. Die Situation bezüglich der erlebten Gewalt einer Person mit einer vorläufigen Aufnahme unterscheidet sich nicht von der Situation einer Person mit einer Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung.
Gesetzlich kann dieser Ungleichbehandlung begegnet werden, indem Art. 83 Bst. c Ziff. 3 BGG mit einer Gegenausnahme versehen wird: Die Beschwerde ist unzulässig gegen Entscheide auf dem Gebiet des Ausländerrechts (lit. c) betreffend die vorläufige Aufnahme, soweit es nicht die Verlängerung der vorläufigen Aufnahme gemäss Art. 50 Abs. 1 AIG betrifft.
Finanzierung über Opferhilfe
Die im Opferhilfegesetz vorgesehenen finanziellen Leistungen sollen auf migrationsrechtliche Verfahren ausgeweitet werden.
Das Opferhilfegesetz (OHG) sieht vor, dass alle Menschen, die in der Schweiz durch eine Straftat körperlich, psychisch oder sexuell beeinträchtigt wurden, also gemäss Art. 1 des OHG als Opfer gelten, Anspruch auf (finanzielle) Unterstützung haben. Mit der vorliegenden Gesetzesrevision ist ein besserer Schutz der Opfer vorgesehen. Wie beispielsweise im Strafrecht sollen allfällige Kosten eine gewaltbetroffene Person nicht davon abhalten, auch ihre Rechte in Bezug auf ihren Aufenthalt geltend zu machen.
Die Bewilligungen werden nicht automatisch verlängert; die gewaltbetroffene Person muss ihre Situation darlegen und die Härtefallgründe geltend machen. Nicht selten sind die Betroffenen dabei auf die Unterstützung von Beratungsstellen und Rechtsanwält*innen angewiesen. Gerade bei erstinstanzlichen Verfahren bezüglich der Verlängerung von Bewilligungen wird keine unentgeltliche Rechtspflege gewährt.
Nach dem Grundsatz des Opferhilfegesetz sollen auch die Verfahren, die für die Verlängerung der Bewilligung notwendig sind, mittels Soforthilfe oder längerfristiger Hilfe finanziert werden und die Betroffenen sollen die notwendige Unterstützung durch Fachpersonen erhalten.