Accéder au contenu principal

logo djs

Asyl und Migration

#ShutDownORS: Petition eingereicht!

  • Datum: 22-02-2021 00:00
  • Titel: #ShutDownORS: Petition eingereicht!
  • Haupttext:

    Heute wird die Petition „Shut down ORS“ dem Regierungsrat des Kantons Bern wie auch der Geschäftsprüfungskommission des Grossen Rates des Kanton Berns übergeben. Sie fordert u.a. dass der Kanton der ORS Service AG den Auftrag für die Führung der Rückkehrzentren im Kanton Bern entzieht. Lanciert wurde sie von Stopp Isolation, dem migrant solidarity network (MSN) und den Demokratischen Jurist*innen Bern (djb) nachdem im Berner Rückkehrzentrum Aarwangen Corona ausgebrochen ist und die ORS Service AG die Gesundheit der Menschen nicht geschützt hat. 2459 Personen haben sich diesem Anliegen mit ihrer Unterschrift angeschlossen.


    Die Zustände in den von der ORS Service AG geführten Rückkehrzentren sind nicht hinnehmbar – nicht «erst» seit Corona. Mit dem Ausbruch der Pandemie treten die eklatanten Mängel in der Versorgung der Betroffenen jedoch noch deutlicher zu Tage:

    • Sparen beim Minimum: Erst nach Kritik und seit der Kanton Bern selber Schutzmasken liefern muss, begann die ORS Service AG genügend Schutzmasken, gefüllte Seifenspender oder Desinfektionsmittel im Rückkehrzentrum Aarwangen zur Verfügung zu stellen. Für gesundheitsbedingte Mehrausgaben gibt es kaum Budget. Während Personen in Kollektivunterkünften bereits durch die engen Platzverhältnisse zu den besonders gefährdeten Gruppen gehören, war der schnelle und kostenlose Zugang zu Testmöglichkeiten nicht flächendeckend gewährleistet.

    • Sparen beim Abstandhalten: Neben Hygienemassnahmen wäre genügend Abstand halten zu können das wirksamste Mittel, damit Menschen sich vor Covid schützen können. Das hiesse konkret für die Situation in den Asylzentren, dass es eine dezentrale individuelle Unterbringung braucht – mindestens während der Quarantäne. Für die ORS Service AG kein Thema. Auch wenn weitere Zentren eröffnet wurden, bleiben Menschen in kollektiven Schlafräumen eingepfercht, leben auf engstem Raum und teilen sich sowohl Küche als auch sanitäre Anlagen. Im Rückkehrzentrum Aarwangen musste – bei Schnee und Minustemperaturen – draussen ein mobiles WC aufgestellt werden, um die Trennung zwischen positiv und nicht positiv auf das Coronavirus getestete Menschen bewerkstelligen zu können. Gleichzeitig bleibt ein Nebengebäude mit leeren Zimmern und weiteren Sanitäranlagen ungenutzt.

    • Sparen beim Personal: Trotz der COVID-Krise wurde weder zusätzliches Gesundheitspersonal noch weiteres Personal eingestellt. Das Personal scheint am Anschlag und übernimmt kaum zusätzliche Verantwortung. Dies ermöglicht es der ORS Service AG die Kosten tief zu halten. Bewohnende erhalten dafür lange Zeit keine oder nur ungenaue Informationen. Erkrankte Personen und Personen in der Quarantäne erhalten kaum Unterstützung in Bezug auf Pflege, Einkaufen, Kochen, Kleiderwaschen usw.

    • Sparen durch Schuldzuweisungen statt Qualitätsentwicklung: Bei Problemen macht die ORS Service AG immer alle anderen verantwortlich. Statt aus eigenen Fehlern zu lernen, indem die Beobachtungen und Rückmeldungen von Bewohnenden ernst genommen würden, weist ihnen die ORS Service AG in den Medien öffentlich sogar die Schuld für Probleme zu.

    Gleichzeitig erzielt die ORS Service AG mit ihrer Strategie der minimalistischen Betreuung und unzureichenden Infrastruktur satte Gewinnen – 2019 machte die ORS Service AG in der Schweiz ein Plus von 1,3 Millionen Franken. Die Zahlen für das Jahr 2020 wurden noch nicht offengelegt. Mit der Unterstützung von 2459 Unterzeichner*innen fordern wir den Kanton Bern zum dringenden Handeln auf: Der ORS Service AG muss der Auftrag zur Führung der Rückkehrzentren entzogen werden. Denn es gilt, die Vorwürfe gegenüber der ORS Service AG ernst zu nehmen. Zivilgesellschaftliche Organisationen und Journalist*innen müssen Zugang zu Rückkehrzentren erhalten und direkt mit den dort wohnenden Menschen sprechen können. Umfassende Gesundheitsversorgung muss gewährleistet und eine pandemieangepasste, dezentrale Unterbringung umgehend eingerichtet werden.

    Informationen:

Heute wird die Petition „Shut down ORS“ dem Regierungsrat des Kantons Bern wie auch der Geschäftsprüfungskommission des Grossen Rates des Kanton Berns übergeben. Sie fordert u.a. dass der Kanton der ORS Service AG den Auftrag für die Führung der Rückkehrzentren im Kanton Bern entzieht. Lanciert wurde sie von Stopp Isolation, dem migrant solidarity network (MSN) und den Demokratischen Jurist*innen Bern (djb) nachdem im Berner Rückkehrzentrum Aarwangen Corona ausgebrochen ist und die ORS Service AG die Gesundheit der Menschen nicht geschützt hat. 2459 Personen haben sich diesem Anliegen mit ihrer Unterschrift angeschlossen.

A.L.M.

Human Rights Legal Project I Fall hängig 

 
Am 26.08.2020 verliess A.L.M., ein palästinensischer Staatsangehöriger, die Türkei mit anderen Geflüchteten in der Hoffnung, Italien zu erreichen und dort Asyl zu beantragen. Die Gruppe erreichte nie die Küstenlinie und erlitt Schiffbruch. A.L.M. wurde am 26.08.2020 wegen Menschenschmuggel, Gefährdung von Personen durch Schiffbruch und illegaler Einreise verhaftet. Seitdem ist er im Agia-Haftzentrum in Chania, in Kreta, inhaftiert.
 

Geschehnisse

A.L.M., 1991 in Palästina geboren, verliess am 26. August 2020 die Türkei per Boot in der Hoffnung, Italien zu erreichen und dort Asyl beantragen zu können.

Das Boot schaffte es nicht, die Küste zu erreichen und erlitt Schiffbruch. A.L.M. wurde am selben Tag verhaftet und in die Agia-Haftanstalt in Chania, Kreta, gebracht.

Verfahren

A.L.M. wurde gemäss Artikel 30 Absatz 1(c) und (d) des Gesetzes 4251/2014 (Antimigrationsgesetz) und Artikel 277 des Strafgesetzbuches des illegalen Transportes von Drittstaatsangehörigen aus dem Ausland nach Griechenland unter gefährlichen Bedingungen und der Verursachung eines Schiffbruchs mit der möglichen Absicht der illegalen Einreise beschuldigt.

Danach wurde er vom dreiköpfigen Berufungsgericht zu einhundertfünfundsechzig Jahren und einem Monat Freiheitsentzug verurteilt. In diesem erstinstanzlichen Verfahren war er von einem amtlichen Verteidiger vertreten worden, der nicht die Zeit hatte, eine angemessene Verteidigung aufzubauen.

Mithilfe des Antält:innenteams der Organisation Human Rights Legal Project legte A.L.M. Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil ein.

Die wichtigste Verteidigungslinie in diesem Fall ist die Frage der territorialen Zuständigkeit. Bei der Berufungsverhandlung am 15. Mai 2023 argumentierte das Anwält:innenteam von A.L.M., dass das Gericht in diesem Fall keine territoriale Zuständigkeit habe, da das Boot in internationalen Gewässern, in der Nähe der Insel Rhodos, Schiffsbruch erlitten habe.

Das Berufungsgericht beantragte daraufhin eine Vertagung des Prozesses, damit die Hafenpolizei den genauen Standort des Schiffbruches ermitteln kann. Die Verhandlung fand am 13. November 2023 statt.

Unterstützung durch den PBLF

Beitrag an die beiden Honorrare der Anwält*innen, Reisespesen und Gerichtsgebühren. Aufgrund der zweimaligen Vertagung des Prozesses stiegen die Kosten zustätzlich. Der Fall wurde zudem vom Sea Watch Legal Aid Fund finanziell unterstützt.

Änderung der Asylverordnung 3 und der Verordnung über den Vollzug der Weg- und Ausweisung sowie der Landesverweisung von ausländischen Personen - Auswertung elektronischer Datenträger von Asylsuchenden

  • Datum: 19-06-2023 00:00
  • Titel: Änderung der Asylverordnung 3 und der Verordnung über den Vollzug der Weg- und Ausweisung sowie der Landesverweisung von ausländischen Personen - Auswertung elektronischer Datenträger von Asylsuchenden
  • Haupttext:

    Die DJS hat zusammen mit Solidarité sans frontières und AvenirSocial bereits während der Vernehmlassung auf Gesetzesstufe sowie während den Debatten im Parlament deutlich gemacht, dass sie die Auswertung von elektronischen Datenträgern von Asylsuchenden ablehnt.

    Das informationelle Selbstbestimmungsrecht ist in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie in zahlreichen nationalen und internationalen Gesetzen und Verträgen verankert. Es handelt sich dabei um das Recht jeder Person, selbst zu bestimmen, welche auf sie bezogenen Informationen und Daten sie auch preisgeben möchte und zu welchen Zwecken diese weitergegeben und genutzt oder bearbeitet werden können. Es schützt die persönliche Integrität und die Freiheit der Gedanken, Meinungen und Überzeugungen. Es schützt somit die persönliche Integrität, die Privatsphäre und die Freiheit der Gedanken, Meinungen und Überzeugungen.

    Die Auswertung von Handys und anderen Datenträgern von Asylsuchenden stellt jedoch angesichts der umfangreichen, oft sehr intimen Daten, einen massiven Eingriff in dieses Recht dar. Denn dabei werden nicht nur persönliche Daten wie Kontakte, Nachrichten und Fotos erfasst, sondern auch politische Überzeugungen, religiöse Ansichten und andere private Informationen. Zwar wird durch die Vorlage die für einen Eingriff in ein Grundrecht erforderliche gesetzliche Grundlage geschaffen. Ein solcher Eingriff muss allerdings einen legitimen Zweck bzw. ein gewichtiges öffentliches Interesse verfolgen und geeignet und erforderlich sein. Die Bestimmungen der vorgelegten Fassung reichen aus Sicht der DJS nicht aus für eine grundrechts- und datenschutzkonforme Umsetzung. Die Verordnungsbestimmungen tragen dem Umstand, dass es sich um einen schweren Eingriff in das Recht auf Schutz der Privatsphäre handelt, zu wenig Rechnung. Sie listen insbesondere zu wenig detailliert auf, wie die Verhältnismässigkeit im Einzelfall sichergestellt wird. Auf die Wichtigkeit der Einhaltung des Verhältnismässigkeitsprinzips hat auch der Bundesrat in seiner Stellungnahme vom 20. Januar 2021 mehrfach hingewiesen.

    Aus Sicht der DJS sind daher aufgrund der gravierenden Lücken substanzielle Verbesserungen am Vorentwurf erforderlich, die mit der vorliegenden Stellungnahme vorgeschlagen werden.

    • Die Verordnungsbestimmungen berücksichtigen unzureichend, dass es sich um einen schwerwiegenden Eingriff in das Recht auf Schutz der Privatsphäre handelt. Es ist unerlässlich, dass die Verordnung eindeutig festlegt, dass die Auswertung von Datenträgern einzig als letztes Mittel angewendet werden darf d.h. nur dann, wenn nachgewiesen wurde, dass keine anderen weniger einschneidende Massnahmen für die betroffene Person zur Verfügung stehen. Dies bedeutet, dass die Behörden z.Bsp. zuerst Abklärungen mit anderen Behörden sowie im Herkunftsland machen und die Person in Anwesenheit der Rechtsvertretung ausführlich befragen müssen. Erst im Verlauf des Verfahrens, wenn alle anderen Massnahmen ausgeschöpft wurden und die Abklärung der Identität nicht anderswertig festgestellt werden konnte, darf die Auswertung von Datenträgern als ultima ratio angeordnet werden. Nie darf die Auswertung bereits zu Beginn des Asylverfahrens angeordnet werden, oder wenn andere oder weitere Abklärungen noch in Gange sind.
    • In Bezug auf das Auswertungsverfahren ist darauf hinzuweisen, dass die Asylsuchenden laut Verordnungsentwurf weniger Verfahrensgarantien erhalten sollen als Beschuldigte in einem Strafverfahren. Insbesondere haben die Asylsuchenden praktisch keine Möglichkeit, sich gegen diesen Eingriff zu wehren. Es ist daher unerlässlich, dass, sowohl während der allfälligen Vortriage und der Zwischenspeicherung als auch während der Auswertung an sich, die asylsuchende Person sowie deren Rechtsvertretung und eine dolmetschende Person zwingend anwesend sind und für die Rechtsvertretungen die erforderlichen Kapazitäten geschaffen werden. Im Verordnungstext ist nicht ersichtlich in welchen Fällen eine Zwischenspeicherung erfolgen soll. Dies ist zwingend zu präzisieren. In keinem Fall darf diese Möglichkeit einer Vorratsdatenspeicherung gleichkommen um vorsorglich Daten zwischenzuspeichern, während noch mildere Massnahmen möglich wären oder noch Abklärungen am Laufen sind. Es ist daher von einer solchen Möglichkeit einer Zwischenspeicherung vollständig abzusehen, eventualiter die Verordnungsbestimmung so zu präzisieren, dass klar wird, in welchen Fällen eine solche Zwischenspeicherung erfolgen kann.
    • Der Verordnungsentwurf läuft zudem diversen datenschutzrechtlichen Grundsätzen wie der Zweckangemessenheit und Datenminimierung aber auch der Transparenz und Nachvollziehbarkeit von Datenverarbeitung. Die vorgeschlagene Regelung erfüllt die Anforderungen des neuen Datenschutzgesetzes nicht, auf welches zwingend verwiesen werden muss. So sind einerseits die auszuwertenden Daten lediglich auf die relevanten Daten einzugrenzen und Ton- und Bildaufnahmen angesichts der Tatsache, dass dies in vielen Fällen auch Daten von Drittpersonen betrifft und ein grosser Teil davon für das Asylverfahren nicht relevant ist, sind aus dem Katalog der möglichen auszuwertenden Daten zu streichen. Andererseits ist nicht klar, wie bei der Auswertung der Daten mittels Software im Sinne einer Vortriage sichergestellt werden soll, dass nur die relevanten Daten und zudem keine Personendaten von Drittpersonen bearbeitet werden; eine gesetzliche Grundlage für die Bearbeitung von allenfalls auch besonders schützenswerten Personendaten Dritter ist gemäss nArt. 8a Abs. 2 AsylG nur für den Fall vorhanden, dass die Bearbeitung von Personendaten der asylsuchenden Person nicht ausreicht, um das Ziel zu erreichen. Diese Voraussetzung ist bei einer Vortriage nie erfüllt. Zudem sind die zugriffsberechtigten Personen in E-Art. 10b AsylV 3 zu wenig detailliert ausgeführt. Mit der Regelung auf Weisungsstufe werden die datenschutzrechtlichen Anforderungen nicht erfüllt.
    • Angesichts der Tatsache, dass die Auswertung der Datenträger integraler Bestandteil der Mitwirkungspflicht ist, sind die asylsuchenden Personen ausreichend d.h. in Anwesenheit einer dolmetschenden Person und mit der Möglichkeit von Rückfragen über die Massnahme zu informieren. Bei einer Verweigerung der Aushändigung der Datenträger müssen die Gründe der Verweigerung geprüft und angemessen berücksichtigt werden, damit der Gefahr der Ableitung von potentiellen Nachteilen entgegengewirkt werden kann.

    Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass ausreichende Abklärungen und Erläuterungen sowie eine hinreichende Risiko- und Folgenabschätzung, wie den verschiedenen Problemen und Fragen hinsichtlich Rechtsstaatlichkeit, Grundrecht auf Schutz der Privatsphäre, Verhältnismässigkeit und Datenschutz tatsächlich Rechnung getragen werden soll, fehlen. Aus Sicht der DJS sind daher aufgrund der gravierenden Lücken substanzielle Verbesserungen am Vorentwurf erforderlich.

    Für die detaillierte Stellungnahme an dem Verordnungsentwurf und den konkreten Anträgen betreffend den einzelnen Verordnungsartikeln verweist die DJS auf die Vernehmlassungsschrift der Schweizerischen Flüchtlingshilfe.

    Hier finden Sie die eingereichte Vernehmlassung

hier finden Sie die eingereichte Vernehmlassung als pdf

Die DJS hat zusammen mit Solidarité sans frontières und AvenirSocial bereits während der Vernehmlassung auf Gesetzesstufe sowie während den Debatten im Parlament deutlich gemacht, dass sie die Auswertung von elektronischen Datenträgern von Asylsuchenden ablehnt.

Das informationelle Selbstbestimmungsrecht ist in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie in zahlreichen nationalen und internationalen Gesetzen und Verträgen verankert. Es handelt sich dabei um das Recht jeder Person, selbst zu bestimmen, welche auf sie bezogenen Informationen und Daten sie auch preisgeben möchte und zu welchen Zwecken diese weitergegeben und genutzt oder bearbeitet werden können. Es schützt die persönliche Integrität und die Freiheit der Gedanken, Meinungen und Überzeugungen. Es schützt somit die persönliche Integrität, die Privatsphäre und die Freiheit der Gedanken, Meinungen und Überzeugungen.

Die Auswertung von Handys und anderen Datenträgern von Asylsuchenden stellt jedoch angesichts der umfangreichen, oft sehr intimen Daten, einen massiven Eingriff in dieses Recht dar. Denn dabei werden nicht nur persönliche Daten wie Kontakte, Nachrichten und Fotos erfasst, sondern auch politische Überzeugungen, religiöse Ansichten und andere private Informationen. Zwar wird durch die Vorlage die für einen Eingriff in ein Grundrecht erforderliche gesetzliche Grundlage geschaffen. Ein solcher Eingriff muss allerdings einen legitimen Zweck bzw. ein gewichtiges öffentliches Interesse verfolgen und geeignet und erforderlich sein. Die Bestimmungen der vorgelegten Fassung reichen aus Sicht der DJS nicht aus für eine grundrechts- und datenschutzkonforme Umsetzung. Die Verordnungsbestimmungen tragen dem Umstand, dass es sich um einen schweren Eingriff in das Recht auf Schutz der Privatsphäre handelt, zu wenig Rechnung. Sie listen insbesondere zu wenig detailliert auf, wie die Verhältnismässigkeit im Einzelfall sichergestellt wird. Auf die Wichtigkeit der Einhaltung des Verhältnismässigkeitsprinzips hat auch der Bundesrat in seiner Stellungnahme vom 20. Januar 2021 mehrfach hingewiesen.

Aus Sicht der DJS sind daher aufgrund der gravierenden Lücken substanzielle Verbesserungen am Vorentwurf erforderlich, die mit der vorliegenden Stellungnahme vorgeschlagen werden.

  • Die Verordnungsbestimmungen berücksichtigen unzureichend, dass es sich um einen schwerwiegenden Eingriff in das Recht auf Schutz der Privatsphäre handelt. Es ist unerlässlich, dass die Verordnung eindeutig festlegt, dass die Auswertung von Datenträgern einzig als letztes Mittel angewendet werden darf d.h. nur dann, wenn nachgewiesen wurde, dass keine anderen weniger einschneidende Massnahmen für die betroffene Person zur Verfügung stehen. Dies bedeutet, dass die Behörden z.Bsp. zuerst Abklärungen mit anderen Behörden sowie im Herkunftsland machen und die Person in Anwesenheit der Rechtsvertretung ausführlich befragen müssen. Erst im Verlauf des Verfahrens, wenn alle anderen Massnahmen ausgeschöpft wurden und die Abklärung der Identität nicht anderswertig festgestellt werden konnte, darf die Auswertung von Datenträgern als ultima ratio angeordnet werden. Nie darf die Auswertung bereits zu Beginn des Asylverfahrens angeordnet werden, oder wenn andere oder weitere Abklärungen noch in Gange sind.
  • In Bezug auf das Auswertungsverfahren ist darauf hinzuweisen, dass die Asylsuchenden laut Verordnungsentwurf weniger Verfahrensgarantien erhalten sollen als Beschuldigte in einem Strafverfahren. Insbesondere haben die Asylsuchenden praktisch keine Möglichkeit, sich gegen diesen Eingriff zu wehren. Es ist daher unerlässlich, dass, sowohl während der allfälligen Vortriage und der Zwischenspeicherung als auch während der Auswertung an sich, die asylsuchende Person sowie deren Rechtsvertretung und eine dolmetschende Person zwingend anwesend sind und für die Rechtsvertretungen die erforderlichen Kapazitäten geschaffen werden. Im Verordnungstext ist nicht ersichtlich in welchen Fällen eine Zwischenspeicherung erfolgen soll. Dies ist zwingend zu präzisieren. In keinem Fall darf diese Möglichkeit einer Vorratsdatenspeicherung gleichkommen um vorsorglich Daten zwischenzuspeichern, während noch mildere Massnahmen möglich wären oder noch Abklärungen am Laufen sind. Es ist daher von einer solchen Möglichkeit einer Zwischenspeicherung vollständig abzusehen, eventualiter die Verordnungsbestimmung so zu präzisieren, dass klar wird, in welchen Fällen eine solche Zwischenspeicherung erfolgen kann.
  • Der Verordnungsentwurf läuft zudem diversen datenschutzrechtlichen Grundsätzen wie der Zweckangemessenheit und Datenminimierung aber auch der Transparenz und Nachvollziehbarkeit von Datenverarbeitung. Die vorgeschlagene Regelung erfüllt die Anforderungen des neuen Datenschutzgesetzesnicht, auf welches zwingend verwiesen werden muss. So sind einerseits die auszuwertenden Daten lediglich auf die relevanten Daten einzugrenzen und Ton- und Bildaufnahmen angesichts der Tatsache, dass dies in vielen Fällen auch Daten von Drittpersonen betrifft und ein grosser Teil davon für das Asylverfahren nicht relevant ist, sind aus dem Katalog der möglichen auszuwertenden Daten zu streichen. Andererseits ist nicht klar, wie bei der Auswertung der Daten mittels Software im Sinne einer Vortriage sichergestellt werden soll, dass nur die relevanten Daten und zudem keine Personendaten von Drittpersonen bearbeitet werden; eine gesetzliche Grundlage für die Bearbeitung von allenfalls auch besonders schützenswerten Personendaten Dritter ist gemäss nArt. 8a Abs. 2 AsylG nur für den Fall vorhanden, dass die Bearbeitung von Personendaten der asylsuchenden Person nicht ausreicht, um das Ziel zu erreichen. Diese Voraussetzung ist bei einer Vortriage nie erfüllt. Zudem sind die zugriffsberechtigten Personen in E-Art. 10bAsylV 3 zu wenig detailliert ausgeführt. Mit der Regelung auf Weisungsstufe werden die datenschutzrechtlichen Anforderungen nicht erfüllt.
  • Angesichts der Tatsache, dass die Auswertung der Datenträger integraler Bestandteil der Mitwirkungspflicht ist, sind die asylsuchenden Personen ausreichend d.h. in Anwesenheit einer dolmetschenden Person und mit der Möglichkeit von Rückfragen über die Massnahme zu informieren. Bei einer Verweigerung der Aushändigung der Datenträger müssen die Gründe der Verweigerung geprüft und angemessen berücksichtigt werden, damit der Gefahr der Ableitung von potentiellen Nachteilen entgegengewirkt werden kann.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass ausreichende Abklärungen und Erläuterungen sowie eine hinreichende Risiko- und Folgenabschätzung, wie den verschiedenen Problemen und Fragen hinsichtlich Rechtsstaatlichkeit, Grundrecht auf Schutz der Privatsphäre, Verhältnismässigkeit und Datenschutz tatsächlich Rechnung getragen werden soll, fehlen. Aus Sicht der DJS sind daher aufgrund der gravierenden Lücken substanzielle Verbesserungen am Vorentwurf erforderlich.

Für die detaillierte Stellungnahme an dem Verordnungsentwurf und den konkreten Anträgen betreffend den einzelnen Verordnungsartikeln verweist die DJS auf die Vernehmlassungsschrift der Schweizerischen Flüchtlingshilfe.

Änderung der Verordnung über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE)

  • Datum: 12-10-2023 00:00
  • Titel: Änderung der Verordnung über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE)
  • Haupttext:

    Seit Inkrafttreten des Art. 30a VZAE sind rund 10 Jahre vergangen. In diesen 10 Jahren hat das SEM 61 erstmaligen Gesuchen zugestimmt.[1] Auch wenn ein Teil der jugendlichen Sans-Papiers in Anwendung der generellen Härtefallregelung zusammen mit der ganzen Familie gestützt auf Art. 31 VZAE regularisiert wurden, zeigt die geringe Anzahl an Anwendungen von Art. 30a VZAE, dass diese Regelung nicht praxistauglich ist, kaum angewendet wird und zu restriktiv ausgestaltet ist. Die nun in der Vernehmlassungsvorlage vorgenommene Änderungen in Art. 30a Abs. 1 lit. a VZAE stellt nun aber lediglich eine minimale Anpassung dar und es ist zu befürchten, dass die vorgeschlagenen Änderungen nur einen kleinen Effekt auf den tatsächlichen Zugang zur Berufsbildung haben werden.

    Aus Sicht der DJS sind daher Verbesserungen erforderlich, damit die Forderungen der beiden Motionen auch tatsächlich Wirkung erzielen können. Diese werden mit der vorliegenden Stellungnahme vorgeschlagen.

    • Die Herabsetzung des notwendigen Schulbesuchs von fünf auf zwei Jahre wird begrüsst. Allerdings verhindert die für Sans-Papiers in der aktuellen Rechtspraxis begründeten Voraussetzung eines rund fünfjährigen Aufenthaltes bzw. die bei abgewiesenen Asylsuchenden geltende Regelung in Art. 14 Abs. 2 lit. a AsylG, dass die Neuregelung ihre Wirkung entfalten kann. Im erläuternden Bericht zur Eröffnung des Vernehmlassungsverfahrens wird diesbezüglich ausgeführt, dass es mit der vorgeschlagenen Verkürzung der Mindestdauer des Schulbesuchs bei Sans-Papiers grundsätzlich möglich ist, entsprechend früher eine Aufenthaltsbewilligung im Hinblick auf den Antritt einer Lehrstelle zu erteilen (S. 8). Dies ist dahingehend zu verstehen, dass junge Sans-Papiers, die zwei Jahre die obligatorische Schule in der Schweiz besucht haben, zukünftig unabhängig von der Aufenthaltsdauer in der Schweiz eine Bewilligung erhalten können, sofern sie die übrigen Voraussetzungen gemäss Art. 30a Abs. 1 lit. b-f VZAE erfüllen. Diese Änderung der Praxis zur Aufenthaltsdauer ist den kantonalen Migrationsämtern mitzuteilen. Ohne eine Anpassung der Rechtspraxis bezüglich der Aufenthaltsdauer wird der Zweck der Motion, den Zugang zur beruflichen Ausbildung für Sans-Papiers zu erleichtern, nicht umgesetzt. Eine Herabsetzung des notwendigen Schulbesuchs von fünf auf zwei Jahre kann nur dann eine Erleichterung darstellen, wenn dies auch für die Aufenthaltsdauer gilt. Es muss deshalb sichergestellt werden, dass auch die Rechtspraxis angepasst wird.
    • Da sich junge Sans-Papiers in den meisten Fällen zumindest mit einem Teil ihrer Familie in der Schweiz aufhalten, ist die neue Praxis zur Aufenthaltsdauer auch auf die Familienangehörigen Wie im erläuternden Bericht dargestellt wird, ist bei der Prüfung der Gesuche der Situation der Gesamtfamilie Rechnung zu tragen. Gesuche von Eltern und Geschwistern sollen deshalb ebenfalls unabhängig von der Aufenthaltsdauer in der Schweiz von den Migrationsämtern geprüft und ans SEM überwiesen werden.
    • Es ist zudem in einem nächsten Schritt zwingend notwendig, die Bedingungen für Härtefallgesuche von abgewiesenen Asylsuchenden zu prüfen, um eine Rechtsungleichheit beim Zugang zur beruflichen Grundbildung zu vermeiden. Um den Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit einem ablehnten Asylgesuch den Zugang zu Berufsbildung zu erleichtern, könnte eine Ausnahmebestimmung zu Art. 14 Abs. 2 lit. a AsylG hinsichtlich der Aufenthaltsdauer eingeführt werden.
    • Die Erhöhung der Frist für die Einreichung eines Gesuches von zwölf Monaten auf zwei Jahre ist ein Schritt in die richtige Richtung. Um den komplexen Lebenssituationen – insbesondere von jungen abgewiesenen Asylsuchenden und Sans-Papiers – gerecht zu werden, ist der Vernehmlassungsantwort der Schweizerischen Flüchtlingshilfe folgend eine Erhöhung der Frist auf mindestens fünf Jahre notwendig.
    • Die DJS begrüsst, dass eine bereits begonnene berufliche Grundbildung auch bei einem negativen Asylentscheid abgeschlossen werden kann. Für abgewiesene Asylsuchende, die in den letzten Jahren eine Lehre abbrechen mussten und die sich nach wie vor in der Schweiz befinden, ist eine Übergangsbestimmung
    • Die DJS bedauert, dass die Möglichkeit einer anonymen Gesuchseingabe verworfen wurde. Das grosse Risiko für Sans-Papiers der Bekanntgabe der Personalien bei der Gesuchsstellung dürfte ein zentraler Grund dafür sein, warum die Härtefallregelung nach Art. 30a VZAE bisher so selten angerufen wurde. Auch hier gilt es korrigierend einzugreifen. Die Möglichkeit einer anonymen Vorprüfung, wie sie in einigen Kantonen bereits angewendet wird, hat positive Effekte auf die betroffenen Personen und führt zu Sicherheit für die Gesuchstellenden und deren Familienangehörige. Die aufgeführten Argumente im erläuternden Bericht sind nicht schlüssig, insbesondere da in einigen Kantonen bereits eine entsprechende Praxis existiert. Die kantonal unterschiedliche Handhabung ist zu vereinheitlichen, damit Menschen schweizweit von der Schutzfunktion einer anonymen Einreichung profitieren. Der Bund soll in geeigneter Form dafür sorgen, dass dies in der aktuellen Anpassung der VZAE festgehalten wird. Dies könnte beispielsweise durch eine Anpassung von Art. 30a Abs. 1 Bst. f VZAE erfolgen, wonach bei der Vorprüfung des Gesuchs auf die Offenlegung der Identität verzichtet wird.
    • Zuletzt fordert die DJS, dass in einem weiteren Schritt auch der Zugang zur tertiären Ausbildung erleichtert werden soll. Es gilt, die durch die Anpassung der VZAE entstandene Ungleichbehandlung zwischen Personen, welche eine berufliche Grundbildung anstreben, und Personen, welche eine tertiäre Ausbildung beabsichtigen, zu beheben. Denn obwohl junge Sans-Papiers sowie auch abgewiesene Asylsuchende bereits heute die Möglichkeit haben, einer tertiären Ausbildung nachzugehen, ist dies aufgrund der Lebensrealität der betroffenen Personen mit vielen Herausforderungen und Risiken verbunden. Es wird daher gefordert, dass alle Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die in der Schweiz als Sans-Papiers oder mit einem abgewiesenen Asylgesuch leben sowie zwei Jahre die obligatorische Schule besucht haben, in der VZAE betreffend Zugang zu beruflicher Grundbildung und zu tertiärer Ausbildung berücksichtigt werden.

    Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Stossrichtung der vorgeschlagenen Änderungen grundsätzlich begrüsst wird. Es gilt jedoch sicherzustellen, dass die mit der Herabsetzung des notwendigen Schulbesuchs von fünf auf zwei Jahren einhergehende Praxisänderung bezüglich der reduzierten Aufenthaltsdauer von Sans-Papiers sowie auch deren Familienangehörigen auch entsprechend umgesetzt wird, ansonsten der Zweck der Motion nicht realisiert wird. Zudem ist die Möglichkeit einer anonymen Vorprüfung eines Gesuchs von Sans-Papiers auf Bundesebene zu verankern. In einem nächsten Schritt ist weiter eine Erleichterung beim Zugang zur beruflichen Grundbildung für abgewiesene Asylsuchende hinsichtlich der Mindestaufenthaltsdauer zu prüfen sowie der Zugang für junge Menschen ohne geregelten Status auch zur tertiären Ausbildung zu erleichtern.

    Für die detaillierte Stellungnahme an dem Verordnungsentwurf verweist die DJS auf die Vernehmlassungsschrift der Schweizerischen Flüchtlingshilfe.

    Hier finden Sie die eingereichte Stellungnahme

    [1] Erläuternder Bericht zur Vernehmlassung 2023/39, Änderung der Verordnung über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE), S.8

     

hier finden Sie die eingereichte Stellungnahme als pdf

Seit Inkrafttreten des Art. 30a VZAE sind rund 10 Jahre vergangen. In diesen 10 Jahren hat das SEM 61 erstmaligen Gesuchen zugestimmt.[1] Auch wenn ein Teil der jugendlichen Sans-Papiers in Anwendung der generellen Härtefallregelung zusammen mit der ganzen Familie gestützt auf Art. 31 VZAE regularisiert wurden, zeigt die geringe Anzahl an Anwendungen von Art. 30a VZAE, dass diese Regelung nicht praxistauglich ist, kaum angewendet wird und zu restriktiv ausgestaltet ist. Die nun in der Vernehmlassungsvorlage vorgenommene Änderungen in Art. 30a Abs. 1 lit. a VZAE stellt nun aber lediglich eine minimale Anpassung dar und es ist zu befürchten, dass die vorgeschlagenen Änderungen nur einen kleinen Effekt auf den tatsächlichen Zugang zur Berufsbildung haben werden.

Aus Sicht der DJS sind daher Verbesserungen erforderlich, damit die Forderungen der beiden Motionen auch tatsächlich Wirkung erzielen können. Diese werden mit der vorliegenden Stellungnahme vorgeschlagen.

  • Die Herabsetzung des notwendigen Schulbesuchs von fünf auf zwei Jahre wird begrüsst. Allerdings verhindert die für Sans-Papiers in der aktuellen Rechtspraxis begründeten Voraussetzung eines rund fünfjährigen Aufenthaltes bzw. die bei abgewiesenen Asylsuchenden geltende Regelung in Art. 14 Abs. 2 lit. a AsylG, dass die Neuregelung ihre Wirkung entfalten kann. Im erläuternden Bericht zur Eröffnung des Vernehmlassungsverfahrens wird diesbezüglich ausgeführt, dass es mit der vorgeschlagenen Verkürzung der Mindestdauer des Schulbesuchs bei Sans-Papiers grundsätzlich möglich ist, entsprechend früher eine Aufenthaltsbewilligung im Hinblick auf den Antritt einer Lehrstelle zu erteilen (S. 8). Dies ist dahingehend zu verstehen, dass junge Sans-Papiers, die zwei Jahre die obligatorische Schule in der Schweiz besucht haben, zukünftig unabhängig von der Aufenthaltsdauer in der Schweiz eine Bewilligung erhalten können, sofern sie die übrigen Voraussetzungen gemäss Art. 30a Abs. 1 lit. b-f VZAE erfüllen. Diese Änderung der Praxis zur Aufenthaltsdauer ist den kantonalen Migrationsämtern mitzuteilen. Ohne eine Anpassung der Rechtspraxis bezüglich der Aufenthaltsdauer wird der Zweck der Motion, den Zugang zur beruflichen Ausbildung für Sans-Papiers zu erleichtern, nicht umgesetzt. Eine Herabsetzung des notwendigen Schulbesuchs von fünf auf zwei Jahre kann nur dann eine Erleichterung darstellen, wenn dies auch für die Aufenthaltsdauer gilt. Es muss deshalb sichergestellt werden, dass auch die Rechtspraxis angepasst wird.
  • Da sich junge Sans-Papiers in den meisten Fällen zumindest mit einem Teil ihrer Familie in der Schweiz aufhalten, ist die neue Praxis zur Aufenthaltsdauer auch auf die Familienangehörigen Wie im erläuternden Bericht dargestellt wird, ist bei der Prüfung der Gesuche der Situation der Gesamtfamilie Rechnung zu tragen. Gesuche von Eltern und Geschwistern sollen deshalb ebenfalls unabhängig von der Aufenthaltsdauer in der Schweiz von den Migrationsämtern geprüft und ans SEM überwiesen werden.
  • Es ist zudem in einem nächsten Schritt zwingend notwendig, die Bedingungen für Härtefallgesuche von abgewiesenen Asylsuchenden zu prüfen, um eine Rechtsungleichheit beim Zugang zur beruflichen Grundbildung zu vermeiden. Um den Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit einem ablehnten Asylgesuch den Zugang zu Berufsbildung zu erleichtern, könnte eine Ausnahmebestimmung zu Art. 14 Abs. 2 lit. a AsylG hinsichtlich der Aufenthaltsdauer eingeführt werden.
  • Die Erhöhung der Frist für die Einreichung eines Gesuches von zwölf Monaten auf zwei Jahre ist ein Schritt in die richtige Richtung. Um den komplexen Lebenssituationen – insbesondere von jungen abgewiesenen Asylsuchenden und Sans-Papiers – gerecht zu werden, ist der Vernehmlassungsantwort der Schweizerischen Flüchtlingshilfe folgend eine Erhöhung der Frist auf mindestens fünf Jahre notwendig.
  • Die DJS begrüsst, dass eine bereits begonnene berufliche Grundbildung auch bei einem negativen Asylentscheid abgeschlossen werden kann. Für abgewiesene Asylsuchende, die in den letzten Jahren eine Lehre abbrechen mussten und die sich nach wie vor in der Schweiz befinden, ist eine Übergangsbestimmung
  • Die DJS bedauert, dass die Möglichkeit einer anonymen Gesuchseingabe verworfen wurde. Das grosse Risiko für Sans-Papiers der Bekanntgabe der Personalien bei der Gesuchsstellung dürfte ein zentraler Grund dafür sein, warum die Härtefallregelung nach Art. 30a VZAE bisher so selten angerufen wurde. Auch hier gilt es korrigierend einzugreifen. Die Möglichkeit einer anonymen Vorprüfung, wie sie in einigen Kantonen bereits angewendet wird, hat positive Effekte auf die betroffenen Personen und führt zu Sicherheit für die Gesuchstellenden und deren Familienangehörige. Die aufgeführten Argumente im erläuternden Bericht sind nicht schlüssig, insbesondere da in einigen Kantonen bereits eine entsprechende Praxis existiert. Die kantonal unterschiedliche Handhabung ist zu vereinheitlichen, damit Menschen schweizweit von der Schutzfunktion einer anonymen Einreichung profitieren. Der Bund soll in geeigneter Form dafür sorgen, dass dies in der aktuellen Anpassung der VZAE festgehalten wird. Dies könnte beispielsweise durch eine Anpassung von Art. 30a Abs. 1 Bst. f VZAE erfolgen, wonach bei der Vorprüfung des Gesuchs auf die Offenlegung der Identität verzichtet wird.
  • Zuletzt fordert die DJS, dass in einem weiteren Schritt auch der Zugang zur tertiären Ausbildung erleichtert werden soll. Es gilt, die durch die Anpassung der VZAE entstandene Ungleichbehandlung zwischen Personen, welche eine berufliche Grundbildung anstreben, und Personen, welche eine tertiäre Ausbildung beabsichtigen, zu beheben. Denn obwohl junge Sans-Papiers sowie auch abgewiesene Asylsuchende bereits heute die Möglichkeit haben, einer tertiären Ausbildung nachzugehen, ist dies aufgrund der Lebensrealität der betroffenen Personen mit vielen Herausforderungen und Risiken verbunden. Es wird daher gefordert, dass alle Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die in der Schweiz als Sans-Papiers oder mit einem abgewiesenen Asylgesuch leben sowie zwei Jahre die obligatorische Schule besucht haben, in der VZAE betreffend Zugang zu beruflicher Grundbildung und zu tertiärer Ausbildung berücksichtigt werden.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Stossrichtung der vorgeschlagenen Änderungen grundsätzlich begrüsst wird. Es gilt jedoch sicherzustellen, dass die mit der Herabsetzung des notwendigen Schulbesuchs von fünf auf zwei Jahren einhergehende Praxisänderung bezüglich der reduzierten Aufenthaltsdauer von Sans-Papiers sowie auch deren Familienangehörigen auch entsprechend umgesetzt wird, ansonsten der Zweck der Motion nicht realisiert wird. Zudem ist die Möglichkeit einer anonymen Vorprüfung eines Gesuchs von Sans-Papiers auf Bundesebene zu verankern. In einem nächsten Schritt ist weiter eine Erleichterung beim Zugang zur beruflichen Grundbildung für abgewiesene Asylsuchende hinsichtlich der Mindestaufenthaltsdauer zu prüfen sowie der Zugang für junge Menschen ohne geregelten Status auch zur tertiären Ausbildung zu erleichtern.

Für die detaillierte Stellungnahme an dem Verordnungsentwurf verweist die DJS auf die Vernehmlassungsschrift der Schweizerischen Flüchtlingshilfe.

 

[1] Erläuternder Bericht zur Vernehmlassung 2023/39, Änderung der Verordnung über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE), S.8

 

Änderung des Ausländer- und Integrationsgesetzes (2022/79); Pa Iv. Bei häuslicher Gewalt die Härtefallpraxis nach Artikel 50 AIG garantieren

  • Datum: 08-03-2023 00:00
  • Titel: Änderung des Ausländer- und Integrationsgesetzes (2022/79); Pa Iv. Bei häuslicher Gewalt die Härtefallpraxis nach Artikel 50 AIG garantieren
  • Haupttext:

    Opfer häuslicher Gewalt mit Migrationshintergrund leben häufig mit der Angst, ihren Aufenthaltstitel zu verlieren, sobald sie sich von der Person trennen, die ihnen gegenüber Gewalt ausübt, wenn ihr Aufenthaltstitel direkt an diese Person gebunden ist. Der wichtigste Schritt zum Schutz vor häuslicher Gewalt besteht jedoch oftmals in der Trennung. Die DJS begrüssen vor diesem Hintergrund die Grundzüge von Art. 50 AIG und sehen darin die Chance, einen konsequenten Opferschutz unabhängig vom Aufenthaltstitel durchzusetzen.

    Die DJS begrüssen insbesondere, dass alle Opfer häuslicher Gewalt, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus, einen Anspruch auf Erteilung und Verlängerung ihres Aufenthaltstitels haben. Damit wird die Möglichkeit geschaffen, allen Opfern häuslicher Gewalt tatsächlichen Schutz zu bieten, was die DJS vor dem Hintergrund der Rechtsgleichheit sehr befürworten. In diesem Sinne ist es auch wichtig – wie vorgeschlagen – von häuslicher anstatt von ehelicher Gewalt zu sprechen und auch Konkubinatspartner*innen und nicht nur Ehegatt*innen zu schützen.

    Auch begrüssen die DJS im Sinne der Rechtsgleichheit, dass aufgrund der Erweiterung der Bewilligungsansprüchen die Möglichkeit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten i.S.v. Art. 82 BGG geschaffen wird. Damit können fast alle Betroffenen den Rechtsweg komplett ausschöpfen, was die DJS vor dem Hintergrund der Rechtsweggarantie als wichtig und richtig erachtet.

    Trotz des grundsätzlich guten Ansatzes der geplanten Änderungen gibt es nach wie vor einige Punkte, welche zu kurz kommen und deshalb in der Folge zur Sprache kommen sollen:

    Selbständiger Anspruch von Kindern auf Bewilligungserteilung

    Wie bereits ausgeführt, begrüsst die DJS, dass von häuslicher Gewalt und nicht mehr von ehelicher Gewalt gesprochen wird. Nicht nachvollziehbar ist jedoch, dass in Abs. 2 die Kinder nicht mehr explizit erwähnt werden. Dies könnte in der Praxis zu Missverständnissen führen, wo es doch explizites Ziel der Revision ist, auch Kinder vor häuslicher Gewalt zu schützen. Diese müssen unabhängig von einem gewaltbetroffenen Elternteil Anspruch auf eine Aufenthaltsbewilligung haben. Zudem sollte die Möglichkeit bestehen, dass der nicht Gewalt ausübende Elternteil mit den Kindern zusammen Schutz suchen kann, ohne Angst haben zu müssen, dann den Aufenthaltstitel zu verlieren. Ein solcher unabhängiger Anspruch für die Kinder und, daran gebunden, ein abgeleiteter Anspruch für den nicht Gewalt ausübenden Elternteil ist für Konstellationen, in denen sich die häusliche Gewalt nur gegen die Kinder, nicht aber den anderen Elternteil richtet, unabdingbar. Entsprechend schlägt die DJS nachfolgende Formulierung für den Abs. 2 von Art. 50 AIG vor:

    «Wichtige persönliche Gründe nach Absatz 1 Buchstabe b können namentlich vorliegen, wenn:

    1. Die Ehegattin, der Ehegatte oder das Kind Opfer häuslicher Gewalt wurde; durch die zuständigen Behörden zu berücksichtigende Hinweise sind insbesondere: […]»

    Keine Integrationsvereinbarung während der ersten drei Jahre

    Gemäss dem erläuternden Bericht zum Vorentwurf des Art. 50 AIG sollen Integrationsvereinbarungen auch während den ersten drei Jahren nach Bewilligungserhalt gemäss Art. 50 AIG abgeschlossen werden können. Dies ist für die DJS nicht nachvollziehbar, da der Wortlaut des Art. 50 Abs. 2bis E-AIG eindeutig ist: Die Integrationskriterien nach Art. 58a Abs. 1 Bst. c und d sollen während drei Jahren nicht geprüft werden. Es besteht die Gefahr, dass die Migrationsbehörden mittels Integrationsvereinbarungen zusätzlichen Druck auf die gewaltbetroffenen Ehegatten oder Kinder ausüben.

    Unterstützung durch Sozialhilfe

    Zu begrüssen ist, dass nach Art. 50 Abs. 2bis E-AIG der Bezug von Sozialhilfe während einer Karenzfrist von drei Jahren nicht zum Nachteil der betroffenen Person ausgelegt werden darf. Die Unterstützung durch die Sozialhilfe während dieser drei Jahre darf den betroffenen Personen jedoch auch nicht zu einem späteren Zeitpunkt vorgeworfen werden und etwa bei einer zukünftigen Bewilligungsüberprüfung an zu einem späteren Zeitpunkt bezogene Sozialhilfeleistungen angerechnet werden. Der Gesetzestext von Art. 50 Abs. 2bis E-AIG ist daher wie folgt zu ergänzen:

    «Wird gemäss Absatz 1 eine Aufenthaltsbewilligung aus den wichtigen persönlichen Gründen nach Absatz 2 Buchstabe a oder b erteilt, so werden bei deren Verlängerung die Integrationskriterien nach Artikel 58a Absatz 1 Buchstaben c und d während drei Jahren nicht geprüft. Die während dieser drei Jahren nicht erfüllten Kriterien dürfen der betroffenen Person auch nicht zu einem späteren Zeitpunkt vorgeworfen werden. So darf namentlich die Unterstützung durch die Sozialhilfe während dieser drei Jahre an eine spätere Unterstützung durch die Sozialhilfe nicht angerechnet werden.»

    Bewilligungserteilung während migrationsrechtlicher Verfahren

    Weiter möchte die DJS noch auf ein Problem hinweisen, mit dem sich viele Ausländer*innen im Zusammenhang mit ihrer Bewilligungsverlängerung konfrontiert sehen und das sich auch in den Fällen der Bewilligungserteilung an gewaltbetroffene Ehegatt*innen und Kinder stellt. Die Migrationsbehörden stellen während der Verfahren um Bewilligungsverlängerungen formell keine Aufenthaltsbewilligung aus. Dies wirkt sich sehr nachteilig auf das Leben der betroffenen Ausländer*innen aus. Die fehlende formelle Aufenthaltsbewilligung erschwert die Arbeits- und Wohnungssuche und verunmöglicht Reisen ins Ausland, ausser es wird ein Rückkehrvisum bei der Migrationsbehörde beantragt. Obwohl die Ausländer*innen infolge des laufenden Verfahrens materiell nach wie vor Anspruch auf eine Aufenthaltsbewilligung haben, wird ihnen keine ausgestellt. Diese Praxis wirkt sich erschwerend auf das Leben der Betroffenen aus und ist eine nicht zu rechtfertigende Einschränkung der persönlichen Freiheit. Das AIG ist in Bezug auf diese Frage revisionsbedürftig.

    Aufzählung der zu berücksichtigenden Hinweise

    Die DJS begrüsst die Aufzählung der durch die Migrationsbehörden zu berücksichtigenden Hinweise auf Gesetzesebene in Abs. 2. Diese Aufzählung darf nicht abschliessend sein, weshalb die Formulierung „insbesondere“ – wie vorgesehen – unbedingt im Gesetz stehen muss.

    Erlöschen des Anspruchs von Personen mit einer vorläufigen Aufnahme

    Gemäss dem erläuternden Bericht soll der Anspruch auf Erteilung einer Bewilligung gemäss Art. 50 E-AIG von Personen, die durch ihre*n Ehepartner*in eine F-Bewilligung erhalten haben, nur solange gelten, als der Anspruch auf die vorläufige Aufnahme nicht erlischt. Diese Einschränkung für Personen mit einer vorläufigen Aufnahme ist für die DJS nicht nachvollziehbar, da die Bewilligungserteilung gemäss Art. 50 AIG unabhängig von der*dem gewaltausübenden Ehepartner*in zu erteilen ist. Es handelt sich um eine besondere im Gesetz geregelte Härtefallbewilligung. Verliert der*die gewaltausübende Ehepartner*in die eigene Aufenthaltsbewilligung, da der Anspruch auf die vorläufige Aufnahme erlischt, darf dies keine Auswirkungen auf den Bewilligungsanspruch der gewaltbetroffenen Personen haben. Art. 50 AIG gewährt einen unabhängigen Bewilligungsanspruch. Dieser Anspruch muss für alle Ausländer*innen gleichermassen gelten unabhängig davon, ob die gewaltausübende Person ihren Bewilligungsanspruch verliert – sei es wegen nicht Erfüllen der Integrationskriterien (Widerruf gemäss Art. 62 Abs. 1 AIG) oder sei es wegen fehlender Voraussetzung für die Anordnung einer vorläufigen Aufnahme gemäss Art. 83 AIG.

    Inklusion des Konkubinats

    Mit der Erweiterung der Regelung auf Konkubinatspartner*innen, die im Rahmen des Familiennachzugs in die Schweiz migriert sind, kann die Gleichbehandlung der Beziehung gewährleistet werden. Bislang im Gesetzestext nicht ausdrücklich einbezogen sind Paare, die keiner heterosexuellen Paarbeziehung entsprechen. Wir legen dem Gesetzgeber nahe, dass er im Sinne der Inklusion von LGBTQI+ Menschen den Gesetzestext anpasst und sie als Berechtigte der Regelung gemäss Art. 50 aufführt; zum Beispiel mit der folgenden Ergänzung bei Abs. 4:

    Als Konkubinatspaare gelten alle Paarkonstellationen, unabhängig von sexueller Identität und Orientierung (LGBTQI+).

    Zulässigkeit der Beschwerde ans Bundesgericht

    Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten sollte auch für Personen mit einer vorläufigen Aufnahme zulässig sein. Die Tatsache, dass es sich bei der vorläufigen Aufnahme um eine Ersatzmassnahme handelt – wie die Ausnahme im erläuternden Bericht begründet wird – ist kein nachvollziehbarer Grund dafür, dass einer vorläufig aufgenommenen Person nicht der gleiche Rechtsweg offenstehen soll. Mit der Gesetzesrevision soll der Opferschutz – unabhängig vom Aufenthaltsstatus – gestärkt werden. Die Situation bezüglich der erlebten Gewalt einer Person mit einer vorläufigen Aufnahme unterscheidet sich nicht von der Situation einer Person mit einer Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung.

    Gesetzlich kann dieser Ungleichbehandlung begegnet werden, indem Art. 83 Bst. c Ziff. 3 BGG mit einer Gegenausnahme versehen wird: Die Beschwerde ist unzulässig gegen Entscheide auf dem Gebiet des Ausländerrechts (lit. c) betreffend die vorläufige Aufnahme, soweit es nicht die Verlängerung der vorläufigen Aufnahme gemäss Art. 50 Abs. 1 AIG betrifft.

    Finanzierung über Opferhilfe

    Die im Opferhilfegesetz vorgesehenen finanziellen Leistungen sollen auf migrationsrechtliche Verfahren ausgeweitet werden.

    Das Opferhilfegesetz (OHG) sieht vor, dass alle Menschen, die in der Schweiz durch eine Straftat körperlich, psychisch oder sexuell beeinträchtigt wurden, also gemäss Art. 1 des OHG als Opfer gelten, Anspruch auf (finanzielle) Unterstützung haben. Mit der vorliegenden Gesetzesrevision ist ein besserer Schutz der Opfer vorgesehen. Wie beispielsweise im Strafrecht sollen allfällige Kosten eine gewaltbetroffene Person nicht davon abhalten, auch ihre Rechte in Bezug auf ihren Aufenthalt geltend zu machen.

    Die Bewilligungen werden nicht automatisch verlängert; die gewaltbetroffene Person muss ihre Situation darlegen und die Härtefallgründe geltend machen. Nicht selten sind die Betroffenen dabei auf die Unterstützung von Beratungsstellen und Rechtsanwält*innen angewiesen. Gerade bei erstinstanzlichen Verfahren bezüglich der Verlängerung von Bewilligungen wird keine unentgeltliche Rechtspflege gewährt.

    Nach dem Grundsatz des Opferhilfegesetz sollen auch die Verfahren, die für die Verlängerung der Bewilligung notwendig sind, mittels Soforthilfe oder längerfristiger Hilfe finanziert werden und die Betroffenen sollen die notwendige Unterstützung durch Fachpersonen erhalten.

    Hier finden Sie die eingereichte Vernehmlassung

hier finden Sie die eingereichte Vernehmlassung als pdf

Opfer häuslicher Gewalt mit Migrationshintergrund leben häufig mit der Angst, ihren Aufenthaltstitel zu verlieren, sobald sie sich von der Person trennen, die ihnen gegenüber Gewalt ausübt, wenn ihr Aufenthaltstitel direkt an diese Person gebunden ist. Der wichtigste Schritt zum Schutz vor häuslicher Gewalt besteht jedoch oftmals in der Trennung. Die DJS begrüssen vor diesem Hintergrund die Grundzüge von Art. 50 AIG und sehen darin die Chance, einen konsequenten Opferschutz unabhängig vom Aufenthaltstitel durchzusetzen.

Die DJS begrüssen insbesondere, dass alle Opfer häuslicher Gewalt, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus, einen Anspruch auf Erteilung und Verlängerung ihres Aufenthaltstitels haben. Damit wird die Möglichkeit geschaffen, allen Opfern häuslicher Gewalt tatsächlichen Schutz zu bieten, was die DJS vor dem Hintergrund der Rechtsgleichheit sehr befürworten. In diesem Sinne ist es auch wichtig – wie vorgeschlagen – von häuslicher anstatt von ehelicher Gewalt zu sprechen und auch Konkubinatspartner*innen und nicht nur Ehegatt*innen zu schützen.

Auch begrüssen die DJS im Sinne der Rechtsgleichheit, dass aufgrund der Erweiterung der Bewilligungsansprüchen die Möglichkeit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten i.S.v. Art. 82 BGG geschaffen wird. Damit können fast alle Betroffenen den Rechtsweg komplett ausschöpfen, was die DJS vor dem Hintergrund der Rechtsweggarantie als wichtig und richtig erachtet.

Trotz des grundsätzlich guten Ansatzes der geplanten Änderungen gibt es nach wie vor einige Punkte, welche zu kurz kommen und deshalb in der Folge zur Sprache kommen sollen:

Selbständiger Anspruch von Kindern auf Bewilligungserteilung

Wie bereits ausgeführt, begrüsst die DJS, dass von häuslicher Gewalt und nicht mehr von ehelicher Gewalt gesprochen wird. Nicht nachvollziehbar ist jedoch, dass in Abs. 2 die Kinder nicht mehr explizit erwähnt werden. Dies könnte in der Praxis zu Missverständnissen führen, wo es doch explizites Ziel der Revision ist, auch Kinder vor häuslicher Gewalt zu schützen. Diese müssen unabhängig von einem gewaltbetroffenen Elternteil Anspruch auf eine Aufenthaltsbewilligung haben. Zudem sollte die Möglichkeit bestehen, dass der nicht Gewalt ausübende Elternteil mit den Kindern zusammen Schutz suchen kann, ohne Angst haben zu müssen, dann den Aufenthaltstitel zu verlieren. Ein solcher unabhängiger Anspruch für die Kinder und, daran gebunden, ein abgeleiteter Anspruch für den nicht Gewalt ausübenden Elternteil ist für Konstellationen, in denen sich die häusliche Gewalt nur gegen die Kinder, nicht aber den anderen Elternteil richtet, unabdingbar. Entsprechend schlägt die DJS nachfolgende Formulierung für den Abs. 2 von Art. 50 AIG vor:

«Wichtige persönliche Gründe nach Absatz 1 Buchstabe b können namentlich vorliegen, wenn:

1. Die Ehegattin, der Ehegatte oder das Kind Opfer häuslicher Gewalt wurde; durch die zuständigen Behörden zu berücksichtigende Hinweise sind insbesondere: […]»

Keine Integrationsvereinbarung während der ersten drei Jahre

Gemäss dem erläuternden Bericht zum Vorentwurf des Art. 50 AIG sollen Integrationsvereinbarungen auch während den ersten drei Jahren nach Bewilligungserhalt gemäss Art. 50 AIG abgeschlossen werden können. Dies ist für die DJS nicht nachvollziehbar, da der Wortlaut des Art. 50 Abs. 2bis E-AIG eindeutig ist: Die Integrationskriterien nach Art. 58a Abs. 1 Bst. c und d sollen während drei Jahren nicht geprüft werden. Es besteht die Gefahr, dass die Migrationsbehörden mittels Integrationsvereinbarungen zusätzlichen Druck auf die gewaltbetroffenen Ehegatten oder Kinder ausüben.

Unterstützung durch Sozialhilfe

Zu begrüssen ist, dass nach Art. 50 Abs. 2bis E-AIG der Bezug von Sozialhilfe während einer Karenzfrist von drei Jahren nicht zum Nachteil der betroffenen Person ausgelegt werden darf. Die Unterstützung durch die Sozialhilfe während dieser drei Jahre darf den betroffenen Personen jedoch auch nicht zu einem späteren Zeitpunkt vorgeworfen werden und etwa bei einer zukünftigen Bewilligungsüberprüfung an zu einem späteren Zeitpunkt bezogene Sozialhilfeleistungen angerechnet werden. Der Gesetzestext von Art. 50 Abs. 2bis E-AIG ist daher wie folgt zu ergänzen:

«Wird gemäss Absatz 1 eine Aufenthaltsbewilligung aus den wichtigen persönlichen Gründen nach Absatz 2 Buchstabe a oder b erteilt, so werden bei deren Verlängerung die Integrationskriterien nach Artikel 58a Absatz 1 Buchstaben c und d während drei Jahren nicht geprüft. Die während dieser drei Jahren nicht erfüllten Kriterien dürfen der betroffenen Person auch nicht zu einem späteren Zeitpunkt vorgeworfen werden. So darf namentlich die Unterstützung durch die Sozialhilfe während dieser drei Jahre an eine spätere Unterstützung durch die Sozialhilfe nicht angerechnet werden.»

Bewilligungserteilung während migrationsrechtlicher Verfahren

Weiter möchte die DJS noch auf ein Problem hinweisen, mit dem sich viele Ausländer*innen im Zusammenhang mit ihrer Bewilligungsverlängerung konfrontiert sehen und das sich auch in den Fällen der Bewilligungserteilung an gewaltbetroffene Ehegatt*innen und Kinder stellt. Die Migrationsbehörden stellen während der Verfahren um Bewilligungsverlängerungen formell keine Aufenthaltsbewilligung aus. Dies wirkt sich sehr nachteilig auf das Leben der betroffenen Ausländer*innen aus. Die fehlende formelle Aufenthaltsbewilligung erschwert die Arbeits- und Wohnungssuche und verunmöglicht Reisen ins Ausland, ausser es wird ein Rückkehrvisum bei der Migrationsbehörde beantragt. Obwohl die Ausländer*innen infolge des laufenden Verfahrens materiell nach wie vor Anspruch auf eine Aufenthaltsbewilligung haben, wird ihnen keine ausgestellt. Diese Praxis wirkt sich erschwerend auf das Leben der Betroffenen aus und ist eine nicht zu rechtfertigende Einschränkung der persönlichen Freiheit. Das AIG ist in Bezug auf diese Frage revisionsbedürftig.

Aufzählung der zu berücksichtigenden Hinweise

Die DJS begrüsst die Aufzählung der durch die Migrationsbehörden zu berücksichtigenden Hinweise auf Gesetzesebene in Abs. 2. Diese Aufzählung darf nicht abschliessend sein, weshalb die Formulierung „insbesondere“ – wie vorgesehen – unbedingt im Gesetz stehen muss.

Erlöschen des Anspruchs von Personen mit einer vorläufigen Aufnahme

Gemäss dem erläuternden Bericht soll der Anspruch auf Erteilung einer Bewilligung gemäss Art. 50 E-AIG von Personen, die durch ihre*n Ehepartner*in eine F-Bewilligung erhalten haben, nur solange gelten, als der Anspruch auf die vorläufige Aufnahme nicht erlischt. Diese Einschränkung für Personen mit einer vorläufigen Aufnahme ist für die DJS nicht nachvollziehbar, da die Bewilligungserteilung gemäss Art. 50 AIG unabhängig von der*dem gewaltausübenden Ehepartner*in zu erteilen ist. Es handelt sich um eine besondere im Gesetz geregelte Härtefallbewilligung. Verliert der*die gewaltausübende Ehepartner*in die eigene Aufenthaltsbewilligung, da der Anspruch auf die vorläufige Aufnahme erlischt, darf dies keine Auswirkungen auf den Bewilligungsanspruch der gewaltbetroffenen Personen haben. Art. 50 AIG gewährt einen unabhängigen Bewilligungsanspruch. Dieser Anspruch muss für alle Ausländer*innen gleichermassen gelten unabhängig davon, ob die gewaltausübende Person ihren Bewilligungsanspruch verliert – sei es wegen nicht Erfüllen der Integrationskriterien (Widerruf gemäss Art. 62 Abs. 1 AIG) oder sei es wegen fehlender Voraussetzung für die Anordnung einer vorläufigen Aufnahme gemäss Art. 83 AIG.

Inklusion des Konkubinats

Mit der Erweiterung der Regelung auf Konkubinatspartner*innen, die im Rahmen des Familiennachzugs in die Schweiz migriert sind, kann die Gleichbehandlung der Beziehung gewährleistet werden. Bislang im Gesetzestext nicht ausdrücklich einbezogen sind Paare, die keiner heterosexuellen Paarbeziehung entsprechen. Wir legen dem Gesetzgeber nahe, dass er im Sinne der Inklusion von LGBTQI+ Menschen den Gesetzestext anpasst und sie als Berechtigte der Regelung gemäss Art. 50 aufführt; zum Beispiel mit der folgenden Ergänzung bei Abs. 4:

Als Konkubinatspaare gelten alle Paarkonstellationen, unabhängig von sexueller Identität und Orientierung (LGBTQI+).

Zulässigkeit der Beschwerde ans Bundesgericht

Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten sollte auch für Personen mit einer vorläufigen Aufnahme zulässig sein. Die Tatsache, dass es sich bei der vorläufigen Aufnahme um eine Ersatzmassnahme handelt – wie die Ausnahme im erläuternden Bericht begründet wird – ist kein nachvollziehbarer Grund dafür, dass einer vorläufig aufgenommenen Person nicht der gleiche Rechtsweg offenstehen soll. Mit der Gesetzesrevision soll der Opferschutz – unabhängig vom Aufenthaltsstatus – gestärkt werden. Die Situation bezüglich der erlebten Gewalt einer Person mit einer vorläufigen Aufnahme unterscheidet sich nicht von der Situation einer Person mit einer Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung.

Gesetzlich kann dieser Ungleichbehandlung begegnet werden, indem Art. 83 Bst. c Ziff. 3 BGG mit einer Gegenausnahme versehen wird: Die Beschwerde ist unzulässig gegen Entscheide auf dem Gebiet des Ausländerrechts (lit. c) betreffend die vorläufige Aufnahme, soweit es nicht die Verlängerung der vorläufigen Aufnahme gemäss Art. 50 Abs. 1 AIG betrifft.

Finanzierung über Opferhilfe

Die im Opferhilfegesetz vorgesehenen finanziellen Leistungen sollen auf migrationsrechtliche Verfahren ausgeweitet werden.

Das Opferhilfegesetz (OHG) sieht vor, dass alle Menschen, die in der Schweiz durch eine Straftat körperlich, psychisch oder sexuell beeinträchtigt wurden, also gemäss Art. 1 des OHG als Opfer gelten, Anspruch auf (finanzielle) Unterstützung haben. Mit der vorliegenden Gesetzesrevision ist ein besserer Schutz der Opfer vorgesehen. Wie beispielsweise im Strafrecht sollen allfällige Kosten eine gewaltbetroffene Person nicht davon abhalten, auch ihre Rechte in Bezug auf ihren Aufenthalt geltend zu machen.

Die Bewilligungen werden nicht automatisch verlängert; die gewaltbetroffene Person muss ihre Situation darlegen und die Härtefallgründe geltend machen. Nicht selten sind die Betroffenen dabei auf die Unterstützung von Beratungsstellen und Rechtsanwält*innen angewiesen. Gerade bei erstinstanzlichen Verfahren bezüglich der Verlängerung von Bewilligungen wird keine unentgeltliche Rechtspflege gewährt.

Nach dem Grundsatz des Opferhilfegesetz sollen auch die Verfahren, die für die Verlängerung der Bewilligung notwendig sind, mittels Soforthilfe oder längerfristiger Hilfe finanziert werden und die Betroffenen sollen die notwendige Unterstützung durch Fachpersonen erhalten.

Anwesenheitspflicht in Berner Kollektivunterkünften: Beschwerde beim Bundesgericht eingereicht

  • Datum: 01-02-2019 00:00
  • Titel: Anwesenheitspflicht in Berner Kollektivunterkünften: Beschwerde beim Bundesgericht eingereicht
  • Haupttext:

    Die Demokratischen Jurist*innen Bern (DJB) und das Migrant Solidarity Network (MSN) kritisieren die seit dem 1. Januar 2019 geltende Änderung der Asylsozialhilfeweisung, mit welcher der Kanton Bern eine weitere Verschärfung im Asylbereich eingeführt hat.


    Die revidierte Weisung sieht eine Anwesenheitspflicht in Berner Kollektivunterkünften für Personen des Asylbereichs vor. Diese erweist sich aus zwei Gründen als unzulässig: Erstens kann sich die Anwesenheitspflicht auf keine genügende gesetzliche Grundlage stützen und verletzt deshalb das Legalitätsprinzip. Zweitens führt sie zu empfindlichen Grundrechtseingriffen, die selbst bei Vorliegen einer genügenden gesetzlichen Grundlage unzulässig wären. Aus den genannten Gründen haben 59 Betroffene in Zusammenarbeit mit den DJB und dem MSN gestern beim Bundesgericht Beschwerde erhoben. Sie ersuchen das Bundesgericht, die Anwesenheitspflicht aufgrund ihrer Verfassungswidrigkeit aufzuheben.

    Die neu eingeführte Regelung – die sämtliche Personen des Asylbereichs[1] trifft – sieht vor, sowohl Nothilfe als auch Asylsozialhilfe nur noch an Personen auszuzahlen, die sich während mindestens fünf Tagen pro Woche in der ihnen zugewiesenen Kollektivunterkunft aufhalten und dort übernachten. Personen, die mehr als zwei Nächte pro Woche auswärts übernachten, werden nach einmaliger Ermahnung und Verwarnung von der Unterkunft abgemeldet. Mit der Abmeldung entfallen alle Sozial- und Nothilfeleistungen und damit der Zugang zu medizinischer Versorgung. Unter Umständen kann die Abmeldung gar zur Abschreibung eines hängigen Asylgesuches oder zum Erlöschen einer vorläufigen Aufnahme führen.

    Das Amt für Migration und Personenstand (MIP) ging dabei fälschlicherweise davon aus, dass die Einführung der Anwesenheitspflicht über die blosse Anpassung der kantonalen Weisung ergehen könne und masste sich damit an, selbst als Gesetzgeberin tätig zu werden. Da solche Regelungen die Rechtslage der Betroffenen erheblich verändern, müssen sie zwingend durch den Grossen Rat erlassen werden. Aber selbst wenn eine genügende gesetzliche Grundlage vorliegen würde, erwiese sich die Anwesenheitspflicht als unzulässig: Sie verletzt nicht nur das Recht auf Nothilfe, sondern auch das Recht auf Bewegungsfreiheit sowie auf Achtung des Privat- und Familienlebens. Es liegen keine hinreichenden Gründe vor, die es erlaubten, derart in das Sozialleben und den Lebensrhythmus der betroffenen Personen einzugreifen. Der Kanton argumentiert widersprüchlich, da die Anwesenheitspflicht nicht geeignet ist, die Bedürftigkeit der Betroffenen zu überprüfen oder zu reduzieren.

    Für die Anwältin Annina Mullis, welche die Betroffenen vertritt, ist klar: «Die neue Anwesenheitspflicht stellt einen unverhältnismässigen Eingriff in die Rechte von Personen des Asylbereichs dar, noch dazu ohne gesetzliche Grundlage. Das ist aus grundrechtlicher Sicht unhaltbar.» Diese absurde Situation ist Ausdruck eines politischen Klimas zunehmender Repression gegenüber den Schwächsten der Gesellschaft. Das Bundesgericht hat nun die Gelegenheit, diese unwürdige Herabsetzung der betroffenen Menschen zu beenden.

    [1] Asylsuchende, weggewiesene Asylsuchende, Schutzbedürftige ohne Aufenthaltsstatus, vorläufig aufgenommene Personen sowie vorläufig aufgenommene und anerkannte Flüchtlinge, solange sie einer Kollektivunterkunft zugewiesen sind

Die Demokratischen Jurist*innen Bern (DJB) und das Migrant Solidarity Network (MSN) kritisieren die seit dem 1. Januar 2019 geltende Änderung der Asylsozialhilfeweisung, mit welcher der Kanton Bern eine weitere Verschärfung im Asylbereich eingeführt hat.

Anwesenheitspflicht in Berner Kollektivunterkünften: Bundesgericht tritt nicht auf Beschwerde ein

  • Datum: 13-03-2019 00:00
  • Titel: Anwesenheitspflicht in Berner Kollektivunterkünften: Bundesgericht tritt nicht auf Beschwerde ein
  • Haupttext:

    Seit Anfang Jahr sind in Berner Asylunterkünften untergebrachte Personen dazu verpflichtet, dort an fünf Tagen pro Woche zu übernachten. Eine Gruppe von 59 Betroffenen hatte Ende Januar beim Bundesgericht Beschwerde gegen diese neue Anwesenheitspflicht erhoben. Das Bundesgericht ist in seinem Urteil vom 21. Februar nicht auf die Beschwerde eingetreten.


    Die Anwesenheitspflicht verletzt die Grundrechte der Betroffenen. Nicht nur die Bewegungsfreiheit, sondern auch das Privat- und Familienleben sowie potenziell weitere Rechte werden beeinträchtigt. Die Betroffenen sind gezwungen, entweder diese Einschränkungen hinzunehmen, oder auf ihr Recht auf Sozial- oder Nothilfe zu verzichten.

    Das Bundesgericht lässt die Frage offen, ob die Anwesenheitspflicht rechtswidrig ist, und verwehrt den Betroffenen damit den Rechtsschutz. Diesen sei es ohne Nachteil zumutbar, eine Einzelfallbeschwerde einzureichen. Damit nimmt das Bundesgericht in Kauf, dass sich unzählige Betroffene im ganzen Kanton jeden Tag die grundrechtlich garantierte staatliche Unterstützung (Sozial- oder Nothilfe) mit einer Einschränkung ihrer Freiheitsrechte erkaufen müssen.

    "Solange diese verfassungswidrige Situation andauert, werden die Demokratischen Jurist*innen Bern die Betroffenen dabei unterstützen, die Anwesenheitspflicht mittels Einzelfallbeschwerde gerichtlich überprüfen zu lassen", sagt Florian Weber, Vorstandsmitglied djb.

Seit Anfang Jahr sind in Berner Asylunterkünften untergebrachte Personen dazu verpflichtet, dort an fünf Tagen pro Woche zu übernachten. Eine Gruppe von 59 Betroffenen hatte Ende Januar beim Bundesgericht Beschwerde gegen diese neue Anwesenheitspflicht erhoben. Das Bundesgericht ist in seinem Urteil vom 21. Februar nicht auf die Beschwerde eingetreten.

Auch Menschen in der Nothilfe müssen vor Ansteckungen geschützt werden – Unterbringung der Bewohner*innen in geeignete Unterkünfte gefordert

  • Datum: 01-02-2021 00:00
  • Titel: Auch Menschen in der Nothilfe müssen vor Ansteckungen geschützt werden – Unterbringung der Bewohner*innen in geeignete Unterkünfte gefordert
  • Haupttext:

    Auch Menschen in der Nothilfe müssen vor Ansteckungen geschützt werden – Unterbringung der Bewohner*innen in geeignete Unterkünfte gefordert Durch die Berichterstattung der Berner Zeitung BZ vom 30. Januar 2021 sind die Demokratischen Jurist*innen Bern (djb) auf die aktuellen Bedingungen im unter Quarantäne gestellten Rückkehrzentrum Aarwangen aufmerksam geworden.


    Die djb sind sehr besorgt über die Gefährdung der Gesundheit der Bewohner*innen des Rückkehrzentrums. Im vergangenen Jahr haben die djb die Verfassungsmässigkeit der Anwesenheits- und Übernachtungspflicht in den Rückkehrzentren bereits mehrfach in Frage gestellt. Aufgrund der Unterbringung von 100 Personen auf engstem Raum war es nur eine Frage der Zeit, bis ein grösserer Covid-Ausbruch in einem Rückkehrzentrum Realität werden würde. Die durch die Bewohner*innen und vormaligen Angestellten geschilderten Hygienebedingungen, der Umgang mit den Corona positiven Menschen, die Verweigerung der Ausrichtung der Nothilfeleistungen, die fehlenden sanitären Einrichtungen (ToiToi im Freien), der ungenügende Zugang zu Testmöglichkeiten sowie die (anfänglich) unzureichende Versorgung mit Masken, Seife und Desinfektionsmittel machen deutlich, dass die ORS als Betreiberin der Unterkunft und auch das ABEV als Auftraggeberin ihrer Verpflichtung, die Nothilfe beziehenden Menschen mit geeigneten Massnahmen vor Ansteckungen zu schützen, nicht nachgekommen sind. Mit den ungenügenden Schutzmassnahmen haben die ORS und das ABEV in Kauf genommen, dass sich eine Vielzahl von Menschen innert kürzester Zeit mit Covid-19 anstecken würde. Nachdem mindestens bei einer Person eine Ansteckung mit der mutierten Variante festgestellt wurde, erhöht sich die Gefahr weiterer Ansteckungen enorm. Die kantonalen Behörden sind nun zum Handeln aufgefordert, um eine weitere Ausbreitung des Virus im Zentrum zu vermeiden.

    An die Zuständigen der SID und der GSI stellen die djb folgende Forderungen:

    • Sofortige Unterbringung der Menschen aus dem Rückkehrzentrum Aarwangen in einer Quarantäne tauglichen, menschenwürdigen Einrichtung, welche genügend Raum und sanitäre Einrichtung bietet, damit die Hygienevorschriften und Abstandsregeln eingehalten werden können, um weitere Ansteckungen zu vermeiden;
    • Zugang zu Tests für alle Bewohner*innen der Rückkehrzentren (inkl. Transport zum Testzentrum);
    • Zugang zu adäquater medizinischer Versorgung für die erkrankten Menschen;
    • Ausrichtung der gesamten Nothilfeleistungen von acht Franken pro Tag auch während der Quarantäne;
    • Durchführung einer unabhängigen Untersuchung über die Unterbringungsbedingungen in den Rückkehrzentren im Kanton Bern;
    • Entzug des Auftrags an die ORS für die Führung der Rückkehrzentren.

     

Auch Menschen in der Nothilfe müssen vor Ansteckungen geschützt werden – Unterbringung der Bewohner*innen in geeignete Unterkünfte gefordert Durch die Berichterstattung der Berner Zeitung BZ vom 30. Januar 2021 sind die Demokratischen Jurist*innen Bern (djb) auf die aktuellen Bedingungen im unter Quarantäne gestellten Rückkehrzentrum Aarwangen aufmerksam geworden.

B.B.

Foto © Annina Mullis

Legal Centre Lesvos I hängig

B. B. verlor sein Leben in Bodrum, Türkei, nachdem er von der griechischen Insel Kos zurückgeschoben worden war. Aussagen von Zeug:innen, die vor den Pushbacks zusammen mit B. B. in Griechenland festgehalten wurden, lassen darauf schliessen, dass er sein Leben aufgrund von Folter (Schläge, Elektroschocks) während seiner Inhaftierung durch die griechischen Behörden verlor.

Geschehnisse

Die türkische Grenzwache entdeckte am 22. Oktober 2022 ein Rettungsboot in den Gewässern der Ägäis zwischen der Küste von Bodrum, Türkei, und der Insel Kos, Griechenland. An Bord des Rettungsbootes befanden sich fünfzehn palästinensische Flüchtlinge sowie ein türkischer Staatsbürger, B.B.. Letzterer war nur halb bei Bewusstsein. Er schaffte es knapp, die türkischen Beamten nach Wasser zu fragen. Kurz darauf fiel er in Ohnmacht. Als das Rettungsboot mithilfe der türkischen Grenzwache schliesslich an Land ankam, war er bereits tot. Eine Autopsie sollte später die eindeutigen Folterspuren bestätigen, die sein Körper aufwies.

B.B. war zum Zeitpunkt seines Todes 30 Jahre alt und kurdischer Abstammung. Er war in der türkischen Stadt Izmir geboren und aufgewachsen und Ende September in Griechenland angekommen. B.B. hatte vor, nach Frankreich zu reisen, um dort Asyl zu beantragen. Um nicht schon in Griechenland registriert zu werden, vermied er den Kontakt mit den Behörden und versteckte sich bis zu seiner geplanten Weiterreise in Kos im Haus eines Freundes. Er blieb regelmässig in Kontakt mit seiner Familie, doch plötzlich hörten die Anrufe auf.

Nur dank den Aussagen der palästinensischen Flüchtlinge konnten die nachfolgenden Geschehnisse rekonstruiert werden. Diese erzählten, dass sie bei ihrer Ankunft auf Kos am 21. Oktober 2022 von mehreren mit Sturmhauben vermummten und mit Gewehren, Stöcken und Taschenlampen ausgestatteten Personen abgefangen worden waren. Sie wurden mit Handschellen gefesselt. Nachdem man ihnen die Augen verbunden hatte, wurden sie mit Stöcken geschlagen und in einem Fahrzeug zu einem Gebäude gebracht. Dabei handelte es sich um eine aussergerichtliche Haftanstalt. Die Existenz solcher Einrichtungen war bereits durch mehrere journalistische Untersuchungen bestätigt worden.

Die palästinensischen Flüchtlinge beschrieben, dass sie in einen Raum gebracht worden seien, von wo aus sie die Schreie von B.B. aus dem Nebenzimmer hörten. Dieser sei verhaftet worden, als er eine Fähre nach Athen bestiegen habe. B.B. sei die ganze Nacht lang mit grosser Gewalt gefoltert worden. Sie hörten nicht nur die Schläge und Schreie, sondern auch die Geräusche eines Elektroschockgerätes.

Am nächsten Morgen wurden die palästinensischen Flüchtlinge zusammen mit B.B. auf ein Boot der griechischen Küstenwache verladen, um danach auf offener See in einem aufblasbaren Rettungsboot ausgesetzt zu werden.

Verfahren

Die durch die Autopsie belegten Verletzungen von B.B. stimmten mit den Zeugenaussagen überein. Alle acht Gerichtsmediziner kamen einstimmig zum Schluss, dass B.B.’s Tod auf die erlittene Folter zurückzuführen war, wobei jede andere Todesursache ausgeschlossen werden konnte.

Die ermittelnde Staatsanwaltschaft beantragte Rechtshilfe von Griechenland. Während langer Zeit sind die an Griechenland überwiesenen Akten jedoch nie offiziell bei den griechischen Behörden angekommen. Die Anwält:innen welche die Familie von B.B. unterstützen, befürchteten, dass keiner der beiden Staaten den Fall ernsthaft untersuchen und die schuldigen Personen zur Rechenschaft ziehen will.

Nach monatelangen erfolglosen Anfragen beim griechischen Aussenministerium ist es dem Legal Centre Lesvos am 12. Dezember 2023 schliesslich gelungen, die Akte von B.B. aufzufinden. Diese wurde nun an die zuständige Staatsanwaltschaft weitergeleitet.

Menschenrechtsorganisationen haben zahlreiche Zeugenaussagen von illegal aus Griechenland abgeschobenen Migrant:innen gesammelt, welche den griechischen Behörden übermässige Gewalt und Misshandlungen vorwerfen.

Die «Untersuchung» der griechischen Behörden hat ergeben, dass B.B. nie auf Kos gewesen sei. Es wurden folglich keine Ermittlungen aufgenommen. Weil das LCL annehmen musste, dass die Untersuchung nach der Anzeige zu keinem anderen Ergebnis kommen würde, hat das LCL bereits im April 2025 eine Beschwerde beim EGMR eingereicht. Diese ist aktuell hängig.

Unterstützung durch den PBLF

Beitrag an die Notariatskosten sowie an Reisekosten für Zeug*inneneinvernahmen.

Carmel and Junior_Human Rights Leagal Project

Foto © Hellenic Coast Guard

Human Rights Legal Project I Fall hängig 

Der Fall C.N. und J.A. (Carmel und Junior) betrifft die Zurückweisung von 27 Asylsuchenden aus einer Gruppe von 32 Personen, die am 21. April 2021 auf Samos ankamen. Im September 2021 wurde im Namen von zwei der Pushback-Opfer, C.N. und J.A., Klage eingereicht. Die im Oktober 2021 angeordnete und intern von der Polizei (Internal Affairs) durchgeführte Voruntersuchung konnte jedoch keine Täter ermitteln. Das Verfahren wurde eingestellt. Das HRLP hat Beschwerde beim EGMR eingereicht.
 

Geschehnisse

Der Fall C.N. und J.A. (Carmel und Junior) betrifft die Zurückweisung von 27 Asylsuchenden aus einer Gruppe von 32 Personen, die am 21. April 2021 auf Samos ankamen. Über diesen Fall wurde auch in verschiedenen internationalen Medien (Guardian, Spiegel, APNews) berichtet. Trotz frühzeitiger Berichte von Einheimischen, NGOs, Anwält:innen und Medien sowie der Aussagen der Opfer des Pushback kam es zu erheblichen Verzögerungen und Behinderungen der Ermittlungen. 

Verfahren

Im September 2021 wurde im Namen von zwei der Pushback-Opfer, C.N. und J.A., Klage eingereicht. Die im Oktober 2021 angeordnete und intern von der Polizei (Internal Affairs) durchgeführte Voruntersuchung konnte jedoch keine Täter ermitteln.

Im Laufe von mehr als drei Jahren wurde der Fall von mehreren Staatsanwält:innen und Richter:innen bearbeitet, wobei die Akten mehrfach zwischen ihnen hin- und hergereicht wurden, was die Ermittlungen weiter erschwerte. Trotz zusätzlicher Ermittlungen in den Jahren 2022 und 2023 und Verbindungen zu internationalen Berichten, darunter ein Berichtvon Human Rights Watch über Pushbacks, blieben die Ermittlungen stagnierend.

Die Untersuchung umfasste zwar Zeug:innenaussagen bestimmter Beamt:innen, allerdings wurden nur Aussagen von hochrangigen Beamt:innen und nicht von denjenigen aufgenommen, die zum Zeitpunkt der gemeldeten Pushbacks tatsächlich im Dienst waren . Die Untersuchung mass den Zusicherungen der Polizei und der Küstenwache, die behaupteten, es habe keinen Vorfall gegeben, unverhältnismässig grosses Gewicht bei. Diese Aussagen wurden ungeprüft akzeptiert, obwohl die Vorwürfe verdeckte und rechtswidrige Praktiken betrafen.

Die Untersuchung versäumte es, diese Aussagen ausreichend zu hinterfragen oder die Aussagen der Opfer gebührend zu berücksichtigen, und beschränkte sich auf eine oberflächliche Befragung der beteiligten Behörden.

Insgesamt war die Untersuchung von Mängeln und Versäumnissen geprägt, und schliesslich wurde der Fall am 17. Juni 2024 eingestellt, da die Untersuchung die Verantwortlichen nicht habe identifizieren können.

Nachdem alle innerstaatlichen Rechtsmittel ausgeschöpft wurden - da es keine rechtlichen Mittel gibt, um gegen die Entscheidung zur Einstellung eines Verfahrens Berufung einzulegen, ausser durch die Vorlage neuer Beweise, erachtete es das Human Rights Legal Project eine Beschwerde an den EGMR als notwendig.

Unterstützung durch den PBLF

Beitrag an die rechtliche Expertiese eines griechischen Anwalts, welcher das HRLP bei der Verfassung der Beschwerdeschrift unterstützte.

D.M.

Foto © Mathias Redinga auf Unsplash

Human Rights Legal Project I Fall abgeschlossen I Freispruch

D.M. und seine schwangere Frau N.M. verliessen Ende August 2022 den Libanon, um internationalen Schutz zu beantragen. Sie verliessen ihr Herkunftsland auf einem libanesischen Schiff in Richtung Italien. Bis heute ist unklar, wie viele Personen sich auf dem Schiff befanden. Nach etwa 6 Tagen auf dem Meer ging der Motor des Schiffes kaputt. Das Boot und seine Insassen verbrachten 14 Tage auf dem Meer, bevor sie gerettet wurden. Sie wurden schliesslich von einem maltesischen Boot geborgen, das sich im maltesischen Such- und Rettungsgebiet befand. Obwohl sich das Schiff in maltesischen Gewässern befand und die Rettungsaktion dort durchgeführt wurde, wurden die Passagiere an Bord auf die Insel Kreta in Griechenland gebracht. Zwei Personen starben während der Such- und Rettungsaktion, als sie in das Wasser stürzten und ertranken. Zusätzlich zu diesen Todesfällen erlitt die schwangere Frau eine Fehlgeburt. Am 7. September 2022 wurde D.M. zusammen mit 9 weiteren Personen, darunter 3 Minderjährige, verhaftet.
 

Geschehnisse

D.M. ist ein libanesischer Staatsangehöriger, der am 21. September 2001 geboren wurde. Ende August 2022 floh er zusammen mit seiner schwangeren Frau aus dem Libanon, um internationalen Schutz zu erhalten. Sie verliessen ihr Herkunftsland auf einem libanesischen Boot in Richtung Italien. Bis zum heutigen Tag ist unklar, wie viele Menschen auf dem Boot unterwegs waren.

Nach etwa sechs Tagen auf dem Meer ging der Motor des Bootes kaputt. Zu diesem Zeitpunkt waren Lebensmittel und Wasser auf dem Boot bereits knapp. Die Vorräte wurden vom Kapitän des Bootes verwaltet. Um sicherzustellen, dass seine schwangere Frau Zugang zu Lebensmitteln und Wasser erhielt, bemühte sich D.M. um ein gutes Verhältnis zum Kapitän. Er begann auch, ihm zu helfen, das Wasser aus dem Boot zu schöpfen, damit es nicht sinken würde.

Nach 14 Tage auf dem Meer wurde das Boot schlussendlich von einem maltesischen Schiff gerettet. Obwohl sich das Boot in maltesischen Gewässern befand und die Rettungsaktion in ebendiesen Gewässern durchgeführt worden war, wurden die Passagiere auf die griechische Insel Kreta gebracht. Während der Such- und Rettungsaktion stürzten zwei Menschen vom Boot und ertranken. Zudem erlitt eine schwangere Frau eine Fehlgeburt.

Am 7. September 2022, fast unmittelbar nach der Rettungsaktion, wurde D.M. zusammen mit neun weiteren Personen, darunter drei Minderjährigen, aufgrund eines vorläufigen Haftbefehls verhaftet und in das im Gefängnis von Agia Chania auf Kreta gebracht.

Seit seiner Verhaftung sind D. und N.M. Eltern geworden. Im Januar 2023 kam die gemeinsame Tochter zur Welt, während D.M. in Kreta inhaftiert war. N.M. reiste zu dem für den 19. Juli 2023 angesetzten Prozess nach Kreta, sodass D.M. endlich sein Baby sehen konnte.

Verfahren

D.M. wurde gemäss Artikel 30 Absatz 1(b), (c) und (d) des Gesetzes 4251/2014 (Antimigrationsgesetz) beschuldigt, Drittstaatsangehörige aus Profitgründen und unter gefährlichen Bedingungen illegal nach Griechenland transportiert zu haben. Ihm drohten bis zu 55 Jahre Haftstrafe. D.M. war in keiner Weise an den ihm vorgeworfenen Straftaten beteiligt.

Der Fall sollte zunächst am 6. März 2023 vor dem Berufungsgericht für Strafsachen von Ostkreta in Heraklion verhandelt werden. Seit seiner Verhaftung im September 2022, wurde der Prozess von D.M. bereits sechs Mal verschoben.

Am 22. Januar 2024 fand endlich der Prozess statt. Vor dem dreiköpfigen Berufungsgericht für Strafsachen in Ostkreta machten die Anwält:innen von D.M. geltend, dass die Rettungsaktion in maltesischen Gewässern stattgefunden habe und die griechischen Behörden deswegen nach internationalem Recht nicht für die Verfolgung von D.M. zuständig seien.

Das Gericht folgte diesen Argumenten und D.M. wurde nach eineinhalb Jahren Untersuchungshaft freigelassen.

Mehr Informationen zum Fall finden Sie hier

Unterstützung durch den PBLF

Beitrag an die Honorrare der Anwält*innen, Reisespesen und Gerichtsgebühren. Aufgrund der mehrmaligen Vertagung des Prozesses stiegen die Kosten zustätzlich. Der Fall wurde zudem vom Sea Watch Legal Aid Fund finanziell unterstützt.

Die Demokratischen Juristinnen und Juristen Bern (djb) unterstützen die Forderungen der Gruppe «Stopp Isolation»

  • Datum: 20-07-2020 00:00
  • Titel: Die Demokratischen Juristinnen und Juristen Bern (djb) unterstützen die Forderungen der Gruppe «Stopp Isolation»
  • Haupttext:

    Ende letzter Woche veröffentlichte die Sicherheitsdirektion des Kantons Bern unter dem Titel «Forderungen der Gruppe ‹Stopp Isolation›: Undemokratisch und unsolidarisch» eine Medienmitteilung. Die djb stellen sich hinter die Forderungen der Bewohner*innen der neuen Rückkehrzentren und verurteilen die mit dem Labeling «undemokratisch» und «unsolidarisch» vorgenommene behördliche Diskreditierung des Protests.



    Das Recht auf Versammlungs-, Vereinigungs- und Meinungsäusserungsfreiheit sind grund- und menschenrechtlich geschützt – eine Auseinandersetzung mit den Grundrechten der Betroffenen lassen aber sowohl die Medienmitteilung als auch das Schreiben des ABEV in der dazugehörenden Mediendokumentation vermissen. Dies gilt jedoch nicht «nur» für den formalen Umgang mit den von den Betroffenen zum Ausdruck gebrachten Forderungen, sondern auch für deren inhaltliche «Beantwortung». Deshalb haben sich die djb erlaubt, dem zuständigen Regierungsrat Müller sowie dem Amt für Bevölkerungsdienste (ABEV) eine ausführliche rechtliche Würdigung der in den Rückkehrzentren geltenden Anwesenheits- und Übernachtungspflicht – deren Aufhebung von der Gruppe «Stopp Isolation» gefordert wird – zukommen zu lassen.

    Nach der seit dem 1. März 2020 geltenden – im Internet bisher nicht veröffentlichten – «Nothilfe- und Gesundheitsweisung (Nothilfeweisung)» müssen sich die Bewohner*innen eines Rückkehrzentrums an sieben Tagen und Nächten pro Woche in der Unterkunft aufhalten. Bei einem einmaligen Verstoss (Abwesenheit von maximal zwei Tagen/Nächten) wird ein Verweis erteilt. Wer danach innerhalb von sechs Monaten erneut gegen die Aufenthalts- und Übernachtungspflicht verstösst (Abwesenheit von einem Tag/einer Nacht), wird umgehend beim ABEV abgemeldet. Wer drei oder mehr Tage/Nächte abwesend ist, wird ohne Verwarnung direkt abgemeldet. Mit der Abmeldung erlöscht der Anspruch der betroffenen Person auf Nothilfeleistungen. Nach Ansicht der djb stützt sich diese Regelung mit der blossen Verankerung in einer Weisung einer kantonalen Direktion aber auf eine ungenügende gesetzliche Grundlage und verletzt damit das Legalitätsprinzip. Darüber hinaus ist im übergeordneten Gesetz keine Delegationsnorm ersichtlich, welche dem ABEV in diesem Punkt die Kompetenz zur legislativen Tätigkeit übertragen hätte, weshalb mit der Einführung der Anwesenheits- und Übernachtungspflicht zudem das Prinzip der Gewaltenteilung verletzt wurde. Weiter stellt die Massnahme resp. die Sanktionierung der Nichteinhaltung einen unzulässigen Eingriff auf das Recht auf Hilfe in Notlagen dar und steht – je nach Konstellation – im Widerspruch zu verfassungsmässig geschützten Freiheitsrechten wie dem Recht auf Bewegungsfreiheit, dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, der Glaubens- und Gewissensfreiheit oder der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit.

    Insgesamt qualifizieren die djb die Anwesenheits- und Übernachtungspflicht als verfassungswidrig und nicht mit rechtsstaatlichen Prinzipien vereinbar, weshalb die djb – neben den übrigen Forderungen der Betroffenen – die Forderung nach der Aufhebung der Anwesenheits- und Übernachtungspflicht in den Rückkehrzentren unterstützen. Sollte die Anwesenheits- und Übernachtungspflicht weiter durchgesetzt werden, sind die djb gerne bereit, Betroffene bei der Beschwerdeführung gegen die entsprechende Regelung zu unterstützen und so immerhin den Zugang zur höchstrichterlichen Überprüfung der Verfassungsmässigkeit zu ermöglichen, denn alle haben ein Recht auf Rechte – unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus.

Ende letzter Woche veröffentlichte die Sicherheitsdirektion des Kantons Bern unter dem Titel «Forderungen der Gruppe ‹Stopp Isolation›: Undemokratisch und unsolidarisch» eine Medienmitteilung. Die djb stellen sich hinter die Forderungen der Bewohner*innen der neuen Rückkehrzentren und verurteilen die mit dem Labeling «undemokratisch» und «unsolidarisch» vorgenommene behördliche Diskreditierung des Protests.

Evaluation des neuen Asylverfahrens

  • Datum: 23-08-2021 00:00
  • Titel: Evaluation des neuen Asylverfahrens
  • Haupttext:

    buendnisunabhaengigerrechtsarbeit

    Medienmitteilung des Bündnisses unabhäniger Rechtsarbeit im Asylbereich

    Das «Bündnis unabhängiger Rechtsarbeit im Asylbereich» ist ein Zusammenschluss verschiedener Beratungsstellen, Organisationen, Anwält*innen und engagierter Einzelpersonen, die Rechtsarbeit im Asylbereich leisten. Als unabhängige Akteur*innen in diesem Bereich sehen wir es als unsere Aufgabe, die Umsetzung und Evaluation des neuen Asylverfahrens kritisch zu beobachten und unsere eigenen Erkenntnisse aus der Arbeit mit unseren Mandant*innen mit den Erkenntnissen des Staatssekretariats für Migration (SEM) abzugleichen.

    Das Bündnis unabhängiger Rechtsarbeit hat im Oktober 2020 seine wichtigsten Erkenntnisse zum neuen Asylverfahren bereits als Auswertung der bis dahin vertretenen Fälle veröffentlicht. Das SEM hat heute seine Erkenntnisse aus der externen Evaluation des neuen Asylverfahrens publiziert. Viele der Erkenntnisse und Befürchtungen des Bündnisses haben sich bestätigt.

    Unvollständige Evaluation

    Einleitend ist festzuhalten, dass einige zentrale Aspekte in der Evaluation des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte (SKMR) nicht untersucht wurden, weshalb sich Fragen zur Aussagekraft stellen. So gab es keine Untersuchung über die Erkennung und Behandlung von Asylsuchenden, die zu den besonders vulnerablen Personen gehören. Auch das Dublin-Verfahren sowie das erweiterte Verfahren wurden nicht evaluiert. Das Bündnis erachtet dies insbesondere als problematisch, da gemäss unserer Erfahrung in diesen Bereichen die meisten Probleme auftreten und vor der Umsetzung des neuen Asylverfahrens diesbezüglich auch die grössten Bedenken bestanden.

    Stossend ist aus unserer Sicht insbesondere, dass es sich bei der Evaluation um eine reine Dossier-Analyse handelt und ausschliesslich Interviews mit Fachpersonen geführt wurden. Aus Sicht des Bündnisses wäre es jedoch zentral, die Sichtweise der Betroffenen mittels Interviews bei der Evaluation einzubeziehen. Das politische Versprechen vor der Einführung des neuen Verfahrens war unter anderem, dass bei den Betroffenen die Akzeptanz eines negativen Asylentscheides erhöht werde, indem das neue Verfahren durch die Begleitung einer Rechtsvertretung transparenter werde. Ob dies wirklich der Fall ist und wie gut sich die betroffenen Personen durch ihre Rechtsvertretung im neuen Asylverfahren vertreten fühlen, ist unserer Ansicht nach aber nicht feststellbar, ohne die Betroffenen zu fragen. Die Meinung der tatsächlichen Expert*innen des neuen Asylverfahrens – die Asylsuchenden – wurde nicht eingeholt.

    Forderung:

    • Das Bündnis fordert in einer nächsten Evaluation den Einbezug aller Verfahrensarten, die Untersuchung der Situation von besonders vulnerablen Personen und insbesondere den Einbezug der Betroffenen.

    SEM: Hohes Tempo führt zu Fehlentscheiden

    Aus Sicht des Bündnisses ist das Verfahrenstempo im neuen Asylverfahren deutlich zu hoch. Die Folge davon sind Fehler, welche existenzgefährdende Auswirkungen auf die asylsuchenden Personen haben können.

    In der Evaluation des SKMR wurden in 40 von 120 Dossiers des SEM Fehler gefunden, die einen bedeutsamen Einfluss auf die Entscheidqualität hatten. Dabei handelte es sich gemäss Evaluation des SKMR um teilweise «gravierende Mängel» wie ungenügende Sachverhaltsabklärung, ungenügende Würdigung der Stellungnahme zum Entscheidentwurf, unzutreffender Rechtsanwendung und mangelhafter Begründungsqualität. Davon fällt die mangelhafte Sachverhaltsabklärung ganz besonders ins Gewicht. Es ist an dieser Stelle zu erinnern, dass die korrekte und ausreichende Erhebung des Sachverhalts das zentrale Element im Asylverfahren darstellt. Der Sachverhalt – und nur dieser – ist entscheidrelevant. Die unvollständige oder gar falsche Erhebung des Sachverhalts (z.B. indem die asylsuchende Person zu ihren Flucht- und Reisegründen zu wenig ausführlich befragt wird, medizinische Abklärungen unterlassen werden, oder Fakten und Aussagen falsch interpretiert werden) führt zwangsläufig zu Fehlentscheiden. Bezeichnenderweise verortet das SKMR den Ursprung der ungenügenden Sachverhaltsabklärung beim Verfahrenstempo bzw. beim Zeitdruck, unter dem die Mitarbeitenden des SEM stehen. Beim SEM scheint ein Erwartungsdruck zu bestehen, möglichst viele Fälle im beschleunigten Verfahren zu behandeln – auf Kosten der Qualität.

    Alarmierend ist sodann, dass das SKMR die juristische Qualität der SEM-Entscheide nur als «zufriedenstellend» qualifiziert (und nicht etwa als «gut» oder sogar «sehr gut»). Einzelne Entscheide des SEM waren gemäss Evaluation mit «gröberen Mängeln» behaftet oder gar «fehlerhaft». Die Bemängelung der Sachverhaltsabklärung und die zurückhaltende Bewertung der juristischen Qualität der Entscheide lassen somit in grundlegender Weise an der Qualität der Arbeit des SEM zweifeln. Vor diesem Hintergrund überrascht es auch nicht, dass das SKMR die Qualität der im beschleunigten Verfahren getroffenen Entscheide als insgesamt nur «zufriedenstellend» und nicht etwa als «gut» oder sogar «sehr gut» qualifiziert hat.

    An dieser Stelle ist jedoch daran zu erinnern, dass im Asylverfahren nichts Geringeres als die Existenz der asylsuchenden Personen auf dem Spiel steht. Anders als in anderen Rechtsverfahren können Fehlentscheide des SEM somit eine Gefährdung der Existenz und des Lebens der Betroffenen zur Folge haben. Es gilt somit – im Sinne einer Maxime – um jeden Preis jegliche Fehler zu verhindern. Offenbar werden beim SEM jedoch Fehler zu leichthin in Kauf genommen, wodurch der Schweizer Staat in fahrlässiger Weise Menschenleben gefährdet und diese zu verantworten hat.

    Forderungen:

    • Im beschleunigten Verfahren sollen nur Fälle behandelt werden, die offensichtlich einen positiven Asylentscheid oder zumindest eine vorläufige Aufnahme
    • Ausführliche, auf Verstehen ausgerichtete, Anhörungen aller asylsuchenden Personen
    • Keine Einschränkung bei medizinischen Abklärungen und Behandlungen
    • Monitoring der Sachverhaltserhebung und der Entscheidqualität

    Rechtsvertretung: Problematik von Handwechsel und Rollenverständnis

    Gemäss SKMR-Evaluation lassen sich in der Arbeit der Rechtsvertreter*innen Handwechsel von Fällen nicht vermeiden. Diese würden nur bei Unbegleiteten Minderjährigen Asylsuchenden (UMA) und bei besonders verletzlichen Personen verhindert. Der Handwechsel bedeutet, dass ein Fall von mehreren Rechtsvertretenden behandelt wird. Die Folge davon ist ein unvermeidlicher Verlust von Vertrauen der asylsuchenden Person einerseits und von Fall-Know-How andererseits. Das Vertrauensverhältnis zwischen Asylsuchenden und ihrer Rechtsvertretung ist jedoch eine äusserst wichtige Basis für ein qualitativ gutes Vertretungsverhältnis und die Vulnerabilität von asylsuchenden Personen kann ohne dieses Vertrauensverhältnis oft nicht festgestellt werden. Insbesondere Personen mit traumatischen Erfahrungen (Folter, sexuelle Gewalt) sind oft nicht in der Lage, einer fremden Person von ihren Erlebnissen zu berichten. Handwechsel beeinträchtigen somit unweigerlich die Qualität des Vertretungsverhältnisses.

    In der Evaluation des SKMR wurde verschiedentlich darauf hingewiesen, dass das Rollenverständnis der Rechtsvertreter*innen nicht einheitlich geklärt zu sein scheint. Dies war bereits bei der Einführung des neuen Asylgesetzes ein Kritikpunkt, insbesondere ihre gegen aussen nicht erkennbare Unabhän- gigkeit. Diese Befürchtung hat sich durch die nun vorliegende Evaluation bestätigt. Zu betonen ist, dass nicht entscheidend ist, ob die Rechtsvertreter*innen ihre Unabhängigkeit wirklich wahren oder nicht; entscheidend ist einzig der Eindruck gegenüber ihren Mandant*innen, weil der Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zwischen Mandant*in und Rechtsvertreter*in entscheidend davon abhängt. So sieht sich ein Teil der Rechtsvertreter*innen einzig als «Watchdog» für die Einhaltung der Verfahrensrechte ihrer Klient*innen und als Hilfe bei der Erstellung des Sachverhalts, während andere Rechtsvertreter*innen sich wirklich als Interessenvertretung in einem anwaltlichen Sinne für ihre Mandant*innen sehen. Da gemäss den Vereinbarungen des SEM mit den Leistungserbringern die Berufsregeln für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte anwendbar sind und in diesen klar festgehalten ist, dass Rechtsvertre- ter*innen (bzw. Anwält*innen) ihre Tätigkeit «unabhängig, in eigenem Namen und auf eigene Verant- wortung auszuüben haben» und hierfür klarerweise auch die subjektive Wahrnehmung der Vertretenen miteinbezogen werden muss, kann das Prinzip, dass es sich um ein nichtstrittiges Verfahren handelt, nicht herhalten, um die Rechtsvertreter*innen zu «Mithelfenden bei der Erstellung des Sachverhalts» zu degradieren. Die grossen Unterschiede in der Chancenbeurteilung, ob eine Beschwerde erhoben wird oder nicht, zeigen deutlich auf, dass dieses Rollenverständnis von Region zu Region sehr unterschiedlich ist.

    Beunruhigend in Bezug auf das hohe Verfahrenstempo ist schliesslich, dass im Rahmen der Evaluation einzelne Rechtsvertreter*innen anführten, auf das Erheben einer Beschwerde verzichtet zu haben, weil sie nicht ausreichend Zeit dazu gehabt hätten. Zwar nimmt das SKMR diesen Punkt in der Gesamtbeurteilung nicht auf, einzelne Aussagen sind dennoch ernst zu nehmen.

    Forderungen:

    • Handwechsel während dem Asylverfahren sind zu vermeiden und die Fristen sind so anzupassen, dass dies in keinem Fall nötig ist
    • Verlängerung der Beschwerdefristen in allen Verfahrensarten auf die üblichen 30 Tage
    • Verlängerung der Frist der Stellungnahme zum Entscheidentwurf auf 10 Tage
    • Klärung und Vereinheitlichung der Praxis zur Beschwerdeerhebung zum Kriterium der Aussichtlosigkeit mit dem Grundsatz «Im Zweifel für eine Beschwerde»

    Spezifisch: Prekäre Situation in den Zentren ohne Verfahrensfunktion

    Schliesslich ist im Speziellen noch auf die äusserst prekäre Situation in den Bundesasylzentren ohne Verfahrensfunktion einzugehen. Diese Zentren liegen oft an äusserst peripherer Lage, womit den Asylsuchenden oft die Möglichkeit genommen wird, sich für Beratung oder Information an externe Stellen zu wenden. Umso wichtiger wäre die Rolle der mandatierten Rechtsvertreter*innen. Es ist daher stossend, dass diese nur so selten in den Zentren anwesend sind und die Kommunikation häufig nur per Videokonferenz stattfinden kann. Insbesondere die Tatsache, dass Entscheide von der Rechtsvertretung per Videokonferenz eröffnet werden, ist nicht hinnehmbar. Die betroffenen Asylsuchenden befinden sich nach Erhalt eines negativen Entscheids in einer äusserst vulnerablen Situation und sind in diesen sehr abgelegenen Zentren damit vollkommen auf sich alleine gestellt.

    Forderungen:

    • Verlegung der Zentren ohne Verfahrensfunktion an weniger abgelegene Standorte
    • Höhere Präsenz (mind. jeweils halbtags) der Rechtsvertretung und Rechtsberatung
    • Shuttle-Busse von den Zentren ohne Verfahrensfunktion zu den Bundesasylzentren mit Verfahrensfunktion und die grösseren naheliegenden Städte

buendnisunabhaengigerrechtsarbeit

Medienmitteilung des Bündnisses unabhäniger Rechtsarbeit im Asylbereich

Das «Bündnis unabhängiger Rechtsarbeit im Asylbereich» ist ein Zusammenschluss verschiedener Beratungsstellen, Organisationen, Anwält*innen und engagierter Einzelpersonen, die Rechtsarbeit im Asylbereich leisten. Als unabhängige Akteur*innen in diesem Bereich sehen wir es als unsere Aufgabe, die Umsetzung und Evaluation des neuen Asylverfahrens kritisch zu beobachten und unsere eigenen Erkenntnisse aus der Arbeit mit unseren Mandant*innen mit den Erkenntnissen des Staatssekretariats für Migration (SEM) abzugleichen.

Das Bündnis unabhängiger Rechtsarbeit hat im Oktober 2020 seine wichtigsten Erkenntnisse zum neuen Asylverfahren bereits als Auswertung der bis dahin vertretenen Fälle veröffentlicht. Das SEM hat heute seine Erkenntnisse aus der externen Evaluation des neuen Asylverfahrens publiziert. Viele der Erkenntnisse und Befürchtungen des Bündnisses haben sich bestätigt.

Unvollständige Evaluation

 

Einleitend ist festzuhalten, dass einige zentrale Aspekte in der Evaluation des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte (SKMR) nicht untersucht wurden, weshalb sich Fragen zur Aussagekraft stellen. So gab es keine Untersuchung über die Erkennung und Behandlung von Asylsuchenden, die zu den besonders vulnerablen Personen gehören. Auch das Dublin-Verfahren sowie das erweiterte Verfahren wurden nicht evaluiert. Das Bündnis erachtet dies insbesondere als problematisch, da gemäss unserer Erfahrung in diesen Bereichen die meisten Probleme auftreten und vor der Umsetzung des neuen Asylverfahrens diesbezüglich auch die grössten Bedenken bestanden.

Stossend ist aus unserer Sicht insbesondere, dass es sich bei der Evaluation um eine reine Dossier-Analyse handelt und ausschliesslich Interviews mit Fachpersonen geführt wurden. Aus Sicht des Bündnisses wäre es jedoch zentral, die Sichtweise der Betroffenen mittels Interviews bei der Evaluation einzubeziehen. Das politische Versprechen vor der Einführung des neuen Verfahrens war unter anderem, dass bei den Betroffenen die Akzeptanz eines negativen Asylentscheides erhöht werde, indem das neue Verfahren durch die Begleitung einer Rechtsvertretung transparenter werde. Ob dies wirklich der Fall ist und wie gut sich die betroffenen Personen durch ihre Rechtsvertretung im neuen Asylverfahren vertreten fühlen, ist unserer Ansicht nach aber nicht feststellbar, ohne die Betroffenen zu fragen. Die Meinung der tatsächlichen Expert*innen des neuen Asylverfahrens – die Asylsuchenden – wurde nicht eingeholt.

Forderung:

  • Das Bündnis fordert in einer nächsten Evaluation den Einbezug aller Verfahrensarten, die Untersuchung der Situation von besonders vulnerablen Personen und insbesondere den Einbezug der Betroffenen.

SEM: Hohes Tempo führt zu Fehlentscheiden

Aus Sicht des Bündnisses ist das Verfahrenstempo im neuen Asylverfahren deutlich zu hoch. Die Folge davon sind Fehler, welche existenzgefährdende Auswirkungen auf die asylsuchenden Personen haben können.

In der Evaluation des SKMR wurden in 40 von 120 Dossiers des SEM Fehler gefunden, die einen bedeutsamen Einfluss auf die Entscheidqualität hatten. Dabei handelte es sich gemäss Evaluation des SKMR um teilweise «gravierende Mängel» wie ungenügende Sachverhaltsabklärung, ungenügende Würdigung der Stellungnahme zum Entscheidentwurf, unzutreffender Rechtsanwendung und mangelhafter Begründungsqualität. Davon fällt die mangelhafte Sachverhaltsabklärung ganz besonders ins Gewicht. Es ist an dieser Stelle zu erinnern, dass die korrekte und ausreichende Erhebung des Sachverhalts das zentrale Element im Asylverfahren darstellt. Der Sachverhalt – und nur dieser – ist entscheidrelevant. Die unvollständige oder gar falsche Erhebung des Sachverhalts (z.B. indem die asylsuchende Person zu ihren Flucht- und Reisegründen zu wenig ausführlich befragt wird, medizinische Abklärungen unterlassen werden, oder Fakten und Aussagen falsch interpretiert werden) führt zwangsläufig zu Fehlentscheiden. Bezeichnenderweise verortet das SKMR den Ursprung der ungenügenden Sachverhaltsabklärung beim Verfahrenstempo bzw. beim Zeitdruck, unter dem die Mitarbeitenden des SEM stehen. Beim SEM scheint ein Erwartungsdruck zu bestehen, möglichst viele Fälle im beschleunigten Verfahren zu behandeln – auf Kosten der Qualität.

Alarmierend ist sodann, dass das SKMR die juristische Qualität der SEM-Entscheide nur als «zufriedenstellend» qualifiziert (und nicht etwa als «gut» oder sogar «sehr gut»). Einzelne Entscheide des SEM waren gemäss Evaluation mit «gröberen Mängeln» behaftet oder gar «fehlerhaft». Die Bemängelung der Sachverhaltsabklärung und die zurückhaltende Bewertung der juristischen Qualität der Entscheide lassen somit in grundlegender Weise an der Qualität der Arbeit des SEM zweifeln. Vor diesem Hintergrund überrascht es auch nicht, dass das SKMR die Qualität der im beschleunigten Verfahren getroffenen Entscheide als insgesamt nur «zufriedenstellend» und nicht etwa als «gut» oder sogar «sehr gut» qualifiziert hat.

An dieser Stelle ist jedoch daran zu erinnern, dass im Asylverfahren nichts Geringeres als die Existenz der asylsuchenden Personen auf dem Spiel steht. Anders als in anderen Rechtsverfahren können Fehlentscheide des SEM somit eine Gefährdung der Existenz und des Lebens der Betroffenen zur Folge haben. Es gilt somit – im Sinne einer Maxime – um jeden Preis jegliche Fehler zu verhindern. Offenbar werden beim SEM jedoch Fehler zu leichthin in Kauf genommen, wodurch der Schweizer Staat in fahrlässiger Weise Menschenleben gefährdet und diese zu verantworten hat.

Forderungen:

  • Im beschleunigten Verfahren sollen nur Fälle behandelt werden, die offensichtlich einen positiven Asylentscheid oder zumindest eine vorläufige Aufnahme
  • Ausführliche, auf Verstehen ausgerichtete, Anhörungen aller asylsuchenden Personen
  • Keine Einschränkung bei medizinischen Abklärungen und Behandlungen
  • Monitoring der Sachverhaltserhebung und der Entscheidqualität

Rechtsvertretung: Problematik von Handwechsel und Rollenverständnis

Gemäss SKMR-Evaluation lassen sich in der Arbeit der Rechtsvertreter*innen Handwechsel von Fällen nicht vermeiden. Diese würden nur bei Unbegleiteten Minderjährigen Asylsuchenden (UMA) und bei besonders verletzlichen Personen verhindert. Der Handwechsel bedeutet, dass ein Fall von mehreren Rechtsvertretenden behandelt wird. Die Folge davon ist ein unvermeidlicher Verlust von Vertrauen der asylsuchenden Person einerseits und von Fall-Know-How andererseits. Das Vertrauensverhältnis zwischen Asylsuchenden und ihrer Rechtsvertretung ist jedoch eine äusserst wichtige Basis für ein qualitativ gutes Vertretungsverhältnis und die Vulnerabilität von asylsuchenden Personen kann ohne dieses Vertrauensverhältnis oft nicht festgestellt werden. Insbesondere Personen mit traumatischen Erfahrungen (Folter, sexuelle Gewalt) sind oft nicht in der Lage, einer fremden Person von ihren Erlebnissen zu berichten. Handwechsel beeinträchtigen somit unweigerlich die Qualität des Vertretungsverhältnisses.

In der Evaluation des SKMR wurde verschiedentlich darauf hingewiesen, dass das Rollenverständnis der Rechtsvertreter*innen nicht einheitlich geklärt zu sein scheint. Dies war bereits bei der Einführung des neuen Asylgesetzes ein Kritikpunkt, insbesondere ihre gegen aussen nicht erkennbare Unabhän- gigkeit. Diese Befürchtung hat sich durch die nun vorliegende Evaluation bestätigt. Zu betonen ist, dass nicht entscheidend ist, ob die Rechtsvertreter*innen ihre Unabhängigkeit wirklich wahren oder nicht; entscheidend ist einzig der Eindruck gegenüber ihren Mandant*innen, weil der Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zwischen Mandant*in und Rechtsvertreter*in entscheidend davon abhängt. So sieht sich ein Teil der Rechtsvertreter*innen einzig als «Watchdog» für die Einhaltung der Verfahrensrechte ihrer Klient*innen und als Hilfe bei der Erstellung des Sachverhalts, während andere Rechtsvertreter*innen sich wirklich als Interessenvertretung in einem anwaltlichen Sinne für ihre Mandant*innen sehen. Da gemäss den Vereinbarungen des SEM mit den Leistungserbringern die Berufsregeln für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte anwendbar sind und in diesen klar festgehalten ist, dass Rechtsvertre- ter*innen (bzw. Anwält*innen) ihre Tätigkeit «unabhängig, in eigenem Namen und auf eigene Verant- wortung auszuüben haben» und hierfür klarerweise auch die subjektive Wahrnehmung der Vertretenen miteinbezogen werden muss, kann das Prinzip, dass es sich um ein nichtstrittiges Verfahren handelt, nicht herhalten, um die Rechtsvertreter*innen zu «Mithelfenden bei der Erstellung des Sachverhalts» zu degradieren. Die grossen Unterschiede in der Chancenbeurteilung, ob eine Beschwerde erhoben wird oder nicht, zeigen deutlich auf, dass dieses Rollenverständnis von Region zu Region sehr unterschiedlich ist.

Beunruhigend in Bezug auf das hohe Verfahrenstempo ist schliesslich, dass im Rahmen der Evaluation einzelne Rechtsvertreter*innen anführten, auf das Erheben einer Beschwerde verzichtet zu haben, weil sie nicht ausreichend Zeit dazu gehabt hätten. Zwar nimmt das SKMR diesen Punkt in der Gesamtbeurteilung nicht auf, einzelne Aussagen sind dennoch ernst zu nehmen.

Forderungen:

  • Handwechsel während dem Asylverfahren sind zu vermeiden und die Fristen sind so anzupassen, dass dies in keinem Fall nötig ist
  • Verlängerung der Beschwerdefristen in allen Verfahrensarten auf die üblichen 30 Tage
  • Verlängerung der Frist der Stellungnahme zum Entscheidentwurf auf 10 Tage
  • Klärung und Vereinheitlichung der Praxis zur Beschwerdeerhebung zum Kriterium der Aussichtlosigkeit mit dem Grundsatz «Im Zweifel für eine Beschwerde»

Spezifisch: Prekäre Situation in den Zentren ohne Verfahrensfunktion

Schliesslich ist im Speziellen noch auf die äusserst prekäre Situation in den Bundesasylzentren ohne Verfahrensfunktion einzugehen. Diese Zentren liegen oft an äusserst peripherer Lage, womit den Asylsuchenden oft die Möglichkeit genommen wird, sich für Beratung oder Information an externe Stellen zu wenden. Umso wichtiger wäre die Rolle der mandatierten Rechtsvertreter*innen. Es ist daher stossend, dass diese nur so selten in den Zentren anwesend sind und die Kommunikation häufig nur per Videokonferenz stattfinden kann. Insbesondere die Tatsache, dass Entscheide von der Rechtsvertretung per Videokonferenz eröffnet werden, ist nicht hinnehmbar. Die betroffenen Asylsuchenden befinden sich nach Erhalt eines negativen Entscheids in einer äusserst vulnerablen Situation und sind in diesen sehr abgelegenen Zentren damit vollkommen auf sich alleine gestellt.

Forderungen:

  • Verlegung der Zentren ohne Verfahrensfunktion an weniger abgelegene Standorte
  • Höhere Präsenz (mind. jeweils halbtags) der Rechtsvertretung und Rechtsberatung
  • Shuttle-Busse von den Zentren ohne Verfahrensfunktion zu den Bundesasylzentren mit Verfahrensfunktion und die grösseren naheliegenden Städte



Préserver les droits de base!

  • Datum: 01-06-2024 00:00
  • Titel: Préserver les droits de base!

La loi fédérale sur le renseignement (LRens) doit être révisée et les services de renseignement obtenir de nouveaux pouvoirs de surveillance. Nous nous opposons à la révision de la loi avec d’autres ONG suisses. Pour la coordination et la campagne, nous avons besoin de plus de 60’000 francs, dont 20’000 francs manquent encore.

Je soutiens la campagne !

Supprimer les contrôles?

De plus, le contrôle judiciaire et celui du Conseil fédéral devraient être affaiblis: une prolongation de mesures soumises à autorisation ne serait plus obligatoirement approuvée par l’ensemble de la Délégation du Conseil fédéral pour la sécurité, mais seulement à posteriori par le Tribunal administratif fédéral (TAF). Le SRC pourrait donc continuer à surveiller des personnes et des organisations quasiment sans autorisation entre la fin de la décision d’approbation en cours et la nouvelle décision du TAF. L’information a posteriori des personnes sous surveillance devrait en outre être facilitée et pourrait être reportée plus longtemps, voire même la possibilité d’y renoncer complètement. Les personnes sous surveillance seraient ainsi privées de toute possibilité de recours.Les personnes sous surveillance se verraient ainsi privées de toute possibilité de recours.

Nous avons tous des secrets et le droit de les protéger. Le respect de notre vie privée et familiale, de notre domicile et de notre correspondance est protégé par l’article 8 de la Convention européenne des droits de l’homme (CEDH) et par l’article 13 de la Constitution fédérale de la Confédération suisse. Depuis au moins 2017, le trafic internet de nous toutes et tous est massivement lu, analysé et stocké pour des analyses ultérieures par l’armée suisse et les services de renseignement, au moyen de la soi-disant exploration du réseau câblé. Il est constamment souligné que l’exploration du réseau câblé est un moyen de renseignement extérieur. Cependant, comme la grande majorité des communications internet en Suisse passent par des serveurs et des réseaux étrangers, nous sommes toutes et tous concernés par cette surveillance.

Faire reculer la surveillance

En 2022 déjà, le Conseil fédéral voulait, avec la révision de la loi sur les services de renseignement (LRens), permettre au Service de renseignement de la Confédération (SRC) de surveiller dans des conditions facilitées plus de groupes de personnes en utilisant  de nouvelles méthodes. Après avoir recueilli 1’200 pages de réponses à la consultation, le Conseil fédéral a repoussé le projet aux calendes grecques. Fin 2023, il a de nouveau annoncé une consultation supplémentaire. Le projet de loi et le message devraient donc être transmis au Parlement en 2025. Un regroupement de la société civile sous l’égide de la Plateforme des ONG suisses pour les droits humains auquel appartiennent Amnesty International Suisse, les Juristes démocrates suisses, la Société numérique, droitsfondamentaux.ch et Public Eye, suit de près les événements et se prépare à repousser cette nouvelle attaque contre nos libertés fondamentales.

Le 19 mars 2024, nous avons remis, avec Campax, une pétition pour l’abolition de l’exploration du réseau câblé, avec 10’000 signatures. Depuis 2021, un recours contre cette forme de surveillance de masse est également en suspens devant le Tribunal administratif fédéral. Début 2024, trois modifications d’ordonnances sur la surveillance des télécommunications sont également entrées en vigueur, selon lesquelles des applications comme Whatsapp, Threema ou Signal auraient initialement dû être obligées de supprimer le chiffrement pour garantir la confidentialité des messages. Le Conseil fédéral y  renonce – pour l’instant – en raison des critiques massives lors de la consultation.

Pour contenir l’appétit de surveillance des données, il faut beaucoup d’heures de travail, la plupart du temps bénévole. Pour leur coordination, les organisations réunies dans le groupe de travail Révision de la loi sur les services de renseignement de la plateforme des ONG suisses pour les droits humains ont engagé une personne à 20%. Pour sa rémunération et les frais de fonctionnement jusqu’à fin 2025, un peu plus de 60’000 francs ont été budgétés. Il manque actuellement 17’500 francs, auxquels s’ajoutent 2’500 francs pour cette campagne, soit un total de 20 000 francs dont nous avons urgemment besoin. Car les plans du Conseil fédéral et du Services de renseignement vont bien au-delà de ce qui a été «réalisé» jusqu’à présent.

Contourner le secret professionnel?

Grâce à des enquêtes médiatiques menées au niveau international, nous savons que le service Cyber de l’armée suisse utilise depuis un certain temps des «chevaux de Troie d’État» (logiciels espions). Au cours des trois dernières années, des journalistes et des juristes ont déposé plusieurs demandes en vertu de la loi sur la transparence (LTrans), dans le but de faire la lumière sur l’acquisition et l’utilisation de logiciels espions par la Confédération. Jusqu’à présent, Fedpol et les services de renseignement ont rejeté toutes ces demandes.

En 2022, les services de renseignement voulaient que la protection absolue du secret professionnel soit assouplie: à l’avenir, les instances religieuses, les juristes et les journalistes pourraient être surveillés ou espionnés, non seulement si ces personnes représentent eux-mêmes une menace, mais aussi si elles sont en contact avec une personne soupçonnée par le SRC.

Collecter d’abord, vérifier ensuite?

Actuellement, le SRC est soumis à des limites dans la collecte de données: il ne peut pas collecter et traiter «d’informations sur l’activité politique et l’exercice de la liberté d’opinion, de réunion ou d’association en Suisse», sauf s’il existe des «indices concrets» que ces droits sont exercés «pour préparer ou mener des activités terroristes, d’espionnage ou d’extrémisme violent».

Désormais, les services de renseignement devraient également être autorisés à collecter sans restriction des informations sur l’exercice des droits politiques en tant que «données brutes». Ce n’est qu’ensuite que ces données, en partie collectées à partir de sources accessibles au public, devraient être examinées pour vérifier si leur collecte était justifiée. Tout appel public à des manifestations, événements politiques, réunions ou activités spontanées pourrait ainsi être enregistré dans un premier temps.

Développer  les exercices d’«inquisition»?

Aujourd’hui déjà, le service secret collecte systématiquement et illégalement des données sur des personnes et des organisations qui ne sont ni violentes ni extrémistes. En 2019 déjà, le Parlement a constaté que le SRC collectait et traitait des informations sur l’activité politique et sur l’exercice de la liberté d’opinion, de réunion ou d’association en contradiction avec les prescriptions légales. Au lieu d’y mettre un terme de manière efficace, la Confédération envisage maintenant d’autoriser également des mesures d’acquisition dites soumises à autorisation (également pour l’observation de «l’extrémisme violent»), , à savoir : 

  • la surveillance de la correspondance postal et  et des télécommunications;
  • l’utilisation d’IMSI-catchers;
  • l’utilisation de mouchards;
  • l’utilisation de «chevaux de Troie» étatiques;
  • l’intrusion dans des systèmes et des réseaux informatiques;
  • la perquisition de locaux et la fouillle de véhicules ou de conteneurs.

Refuser de fournir des informations, les limiter, les différer? 

Aujourd’hui déjà, la pratique du Service de renseignement de la Confédération (SRC) en matière d’information est manque de transparence, insuffisante et plutôt arbitraire. Souvent, il ne donne qu’un accès limité à une liste des entrées qu’il a lui-même constituée. Les documents correspondants ne sont pas fournis, rendant impossible toute vérification sur l’exhaustivité des informations communiquées. La loi prévoit que l’information doit être fournie dans un délai de 30 jours, mais les services de renseignement prennent généralement près d’un an – et ne donnent alors accès qu’aux entrées antérieures à la date de réception de la demande, soit à des informations datant de plus d’un an.

Au lieu de rendre la pratique en matière d’information plus transparente et de la simplifier, il est prévu de supprimer complètement la possibilité de recours via le tribunal administratif pour certaines informations et communications (refus, limitation ou ajournement  d’informations), ce qui est contraire à la Convention européenne des droits de l’homme (CEDH) et à la Constitution fédérale Depuis l’entrée en vigueur de la nouvelle loi sur la protection des données, on considère déjà que les organisations n’ont plus de droit de recours, encore moins les alliances informelles. Par conséquent, le droit d’accès dans la loi sur la protection des données (LPD) ne devrait pas seulement être clarifié, mais étendu.

Modifier des données biométriques? 

L’Autorité de surveillance indépendante du Service de renseignement de la Confédération (AS-Rens) a révélé dans son rapport d’activités 2021 que le service de renseigenement utilisait un système de reconnaissance faciale et traitait des données biométriques. Ce système permettrait de créer des profils d’images et de les enrichir d’autres données. l’AS-Rens y voit la création de profils de la personnalité. En se référant à la loi sur la transparence (LTrans), Société numérique a donc demandé à consulter l’analyse des bases légales et le règlement de traitement établis par le service de renseignement. Le service renseignement a toutefois refusé ce droit de regard, ce qui nous a conduits à déposer un recours auprès du TAF. La décision est actuellement encore en suspens.

Selon la nouvelle loi sur la protection des données (LPD), les données biométriques sont considérées comme des données personnelles sensibles. Elles ne peuvent être traitées par des services publics que s’il existe une base légale claire à cet effet: la mesure doit être proportionnée et permettre aux personnes concernées de savoir dans quelles conditions et par quels actes elles peuvent être concernées par des mesures de surveillance étatiques. Une telle base légale n’existe pas actuellement dans la LPD et n’est pas prévue dans la révision à venir. Le simple fait qu’une analyse des bases juridiques soit nécessaire montre en soi qu’il n’existe pas de base juridique suffisamment claire pour la reconnaissance faciale. Toutefois, toutes les personnes qui se trouvent en Suisse sont concernées par la reconnaissance faciale.

Plus d'infos sur www.societe-numerique.ch/preserver-les-droits-de-base

Ist das «ausgedehnte Bettelverbot» wirklich EMRK konform?

  • Datum: 22-06-2021 22:41
  • Titel: Ist das «ausgedehnte Bettelverbot» wirklich EMRK konform?
  • Haupttext:

    An der morgigen Grossratssitzung wird über die Wiedereinführung des Bettelverbots im Kanton Basel- Stadt beraten. Wie die Regierung in ihrem Ratschlag korrekterweise ausführt, ist ein absolutes Bettelverbot, wie es der Kanton Basel-Stadt bis zur Totalrevision des ÜStG kannte, nicht zulässig, denn es verstösst gegen die Garantien von Art. 8 EMRK, dem Schutz des Rechts auf Achtung des Privatlebens. Doch auch der nun von der Regierung vorgelegte Vorschlag für ein «ausgedehntes Bettelverbot» scheint aus unserer Sicht im Hinblick auf die Garantien von Art. 8 EMRK, welche im Urteil Lacatus gegen die Schweiz vom 19. Januar 2021 in Bezug auf das Betteln erstmals präzisiert wurden, bedenklich.

    Im EGMR Urteil wird ausgeführt, dass lediglich der Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, sowie der Schutz der Grundrechte Dritter in Form des Schutzes vor Menschenhandel und Ausbeutung, öffentliche Interessen sind, die eine Einschränkung des Bettelns erlauben. Es darf jedoch im Hinblick auf die Garantien von Art. 8 EMRK und mit Blick auf die Rechtsgleichheit nicht vorschnell auf ein öffentliches Interesse an einem weitgehenden Bettelverbot geschlossen werden.1 Insbesondere begründen subjektive Empfindungen gegenüber den Bettelnden als lästig oder störend noch kein hinreichendes öffentliches Interesse an einem Verbot und stellen wohl auch keine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit dar.

    Zudem zählt die vorgeschlagene örtliche Ausdehnung des Bettelverbots in § 9 Abs. 2 lit. a bis g des regierungsrätlichen Ratschlags eine solche Vielzahl von Orten auf, dass es fraglich ist, ob es sich hierbei überhaupt noch um eine Begrenzung des Bettelverbots handelt oder ob der Vorschlag der Regierung nicht vielmehr einem unzulässigen absoluten Verbot gleichkommt. Nur mit einer tatsächlichen und verhältnismässigen örtlichen Einschränkung des Bettelverbots ist ein solches mit den Garantien von Art. 8 EMRK vereinbar.

     

    Auch ist aus unserer Sicht die sehr weit gefasste Definition des “organisierten Bettelns” problematisch, da sie sich nicht auf ausbeuterische Strukturen beschränkt, sondern vielmehr wohl bereits jegliches Zusammenwirken und Absprachen zwischen den Bettelnden erfasst und daher einen sehr weiten Anwendungsbereich hat und insbesondere auch Personen bestraft, die zum Betteln geschickt und ausgebeutet werden. Eine Praxis, die von der Expertengruppe des Europarates gegen Menschenhandel GRETA kritisiert wird.

    Die von der Regierung vorgelegte Teilrevision des §9 ÜStG macht zwar auf den ersten Blick den Anschein, dass es sich um verhältnismässige Einschränkungen handelt, faktisch führt das sogenannte «ausgedehnte Bettelverbot» aber wieder zu einem absoluten Bettelverbot an allen Orten, an denen sich Menschen aufhalten und an denen das Betteln überhaupt sinnvoll ausgeübt werden kann, weshalb wir bezweifeln, dass dem Schutzbereich von Art. 8 EMRK genügend Rechnung getragen wird.

    Stimmt der Grosse Rat der vorliegenden Revision des §9 ÜStG zu, fühlen wir uns zum Schutz der Grundrechte von teils sehr vulnerablen Personen dazu veranlasst, eine Anfechtung der Teilrevision mittels abstrakter Normenkontrolle am Bundesgericht zu prüfen.

An der morgigen Grossratssitzung wird über die Wiedereinführung des Bettelverbots im Kanton Basel- Stadt beraten. Wie die Regierung in ihrem Ratschlag korrekterweise ausführt, ist ein absolutes Bettelverbot, wie es der Kanton Basel-Stadt bis zur Totalrevision des ÜStG kannte, nicht zulässig, denn es verstösst gegen die Garantien von Art. 8 EMRK, dem Schutz des Rechts auf Achtung des Privatlebens. Doch auch der nun von der Regierung vorgelegte Vorschlag für ein «ausgedehntes Bettelverbot» scheint aus unserer Sicht im Hinblick auf die Garantien von Art. 8 EMRK, welche im Urteil Lacatus gegen die Schweiz vom 19. Januar 2021 in Bezug auf das Betteln erstmals präzisiert wurden, bedenklich.

Im EGMR Urteil wird ausgeführt, dass lediglich der Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, sowie der Schutz der Grundrechte Dritter in Form des Schutzes vor Menschenhandel und Ausbeutung, öffentliche Interessen sind, die eine Einschränkung des Bettelns erlauben. Es darf jedoch im Hinblick auf die Garantien von Art. 8 EMRK und mit Blick auf die Rechtsgleichheit nicht vorschnell auf ein öffentliches Interesse an einem weitgehenden Bettelverbot geschlossen werden.1 Insbesondere begründen subjektive Empfindungen gegenüber den Bettelnden als lästig oder störend noch kein hinreichendes öffentliches Interesse an einem Verbot und stellen wohl auch keine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit dar.

Zudem zählt die vorgeschlagene örtliche Ausdehnung des Bettelverbots in § 9 Abs. 2 lit. a bis g des regierungsrätlichen Ratschlags eine solche Vielzahl von Orten auf, dass es fraglich ist, ob es sich hierbei überhaupt noch um eine Begrenzung des Bettelverbots handelt oder ob der Vorschlag der Regierung nicht vielmehr einem unzulässigen absoluten Verbot gleichkommt. Nur mit einer tatsächlichen und verhältnismässigen örtlichen Einschränkung des Bettelverbots ist ein solches mit den Garantien von Art. 8 EMRK vereinbar.

 Auch ist aus unserer Sicht die sehr weit gefasste Definition des “organisierten Bettelns” problematisch, da sie sich nicht auf ausbeuterische Strukturen beschränkt, sondern vielmehr wohl bereits jegliches Zusammenwirken und Absprachen zwischen den Bettelnden erfasst und daher einen sehr weiten Anwendungsbereich hat und insbesondere auch Personen bestraft, die zum Betteln geschickt und ausgebeutet werden. Eine Praxis, die von der Expertengruppe des Europarates gegen Menschenhandel GRETA kritisiert wird.

Die von der Regierung vorgelegte Teilrevision des §9 ÜStG macht zwar auf den ersten Blick den Anschein, dass es sich um verhältnismässige Einschränkungen handelt, faktisch führt das sogenannte «ausgedehnte Bettelverbot» aber wieder zu einem absoluten Bettelverbot an allen Orten, an denen sich Menschen aufhalten und an denen das Betteln überhaupt sinnvoll ausgeübt werden kann, weshalb wir bezweifeln, dass dem Schutzbereich von Art. 8 EMRK genügend Rechnung getragen wird.

Stimmt der Grosse Rat der vorliegenden Revision des §9 ÜStG zu, fühlen wir uns zum Schutz der Grundrechte von teils sehr vulnerablen Personen dazu veranlasst, eine Anfechtung der Teilrevision mittels abstrakter Normenkontrolle am Bundesgericht zu prüfen.

 



J.A.

Captain Support Network I Fall abgeschlossen I Freispruch
 
Jawhar A. ist ein Flüchtling aus dem Libanon, der sein Herkunftsland auf der Suche nach Schutz und einer besseren Zukunft in Europa verlassen musste. Er kam mit einem Boot nach Europa.
 

Geschehnisse

Am 15. September 2022 wurde er verhaftet und in Untersuchungshaft genommen. Ihm werden folgende Straftatbestände vorgeworfen:

a) die unrechtmässige Beförderung von 89 Drittstaatsangehörigen vom Ausland nach Griechenland, wodurch eine Gefahr für Menschen bestanden haben könnte,
b) die Beihilfe zur unrechtmässigen Einreise von 89 Drittstaatsangehörigen in das griechische Staatsgebiet,
c) die eigene unrechtmässige Einreise nach Griechenland ohne das erforderliche Recht zur Einreise.

Verfahren

Vor dem erstinstanzlichen Gericht wurde J.A. zu einer Freiheitsstrafe von 270 Jahren und 2 Monaten verurteilt. Besondere Bedeutung erlangt der Fall dadurch, dass die ihm zur Last gelegten Handlungen ausserhalb der griechischen Hoheitsgewässer stattgefunden haben sollen. Daher stellt sich die Frage nach der Zuständigkeit der griechischen Gerichte in diesem Verfahren.

Der Fall wurde am 18. Februar 2025 vom Berufungsgericht in Kalamata verhandelt. Jawhar A. wurde freigesprochen. 

Der Anwalt Alex Georgoulis, der Jawhar A. im Namen des Captain Support Network vertritt, hat bereits mehrere ähnliche Fälle mit seinen Kollegen gewonnen, darunter den spektakulären Fall der Pylos 9.

 

Unterstützung durch den PBLF

Übernahme der Gerichtsgebühren, der Reisekosten sowie einen Beitrag an die Arbeit des Anwalts.

Karpathos_Human Rights Leagal Project

Foto © Dimitris Kiriakakis

Human Rights Legal Project I Fall hängig 

Vier libanesische Männer flohen 2022 mit ihren Familien Richtung Italien, wurden jedoch nahe Karpathos von der griechischen Küstenwache aufgegriffen. Man warf ihnen Schleusung und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung vor. Das Gericht auf den Dodekanes sprach sie im November 2023 wegen fehlender Zuständigkeit frei. Die Staatsanwaltschaft legte Berufung ein, der Fall wurde am 16. Oktober 2024 vor dem Obersten Gerichtshof verhandelt.
 

Geschehnisse

Drei drei männliche Mitglieder derselben Familie und ein Freund von ihnen, alle aus dem Libanon, flohen im 2022 mit ihren Familien aus dem Libanon, um in Europa Sicherheit zu suchen. Das Ziel ihres Bootes war Italien, aber irgendwo in der Nähe der griechischen Insel Karpathos fiel der Motor aus und sie wurden von einem Boot gerettet und der griechischen Küstenwache (HCG) übergeben.
 
Die vier Männer werden beschuldigt, 96 Menschen illegal nach Griechenland gebracht zu haben und Mitglieder einer kriminellen Vereinigung zu sein, deren Ziel die illegale Beförderung von Migranten ist.

Verfahren

Im November 2023 wies das Gericht von Dodekanes alle Anklagen zurück, da es feststellte, dass Griechenland nicht für die Strafverfolgung der Angeklagten zuständig sei, da sie in internationalen Gewässern aufgegriffen worden seien.

Die Staatsanwaltschaft legte gegen das Urteil Berufung ein, und der Fall wurde am 16. Oktober 2024 vor dem Obersten Gerichtshof Griechenlands verhandelt.

Unterstützung durch den PBLF

Beitrag an die Anwalts- und Reisekosten für den griechischen Supreme Court für die beiden Anwälte, die den Fall gemeinsam verteidigten.

Malta: Demokratische Jurist*innen fordern ein Ende des Verfahrens gegen die ElHiblu3

  • Titel: Malta: Demokratische Jurist*innen fordern ein Ende des Verfahrens gegen die ElHiblu3

Hier finden Sie den Beobachtungsbericht als pdf

Here you can find the observation report in English

Eine Delegation von Prozessbeobachterinnen der Demokratischen Jurist*innen Schweiz (DJS) und der European Association of Lawyers for Democracy & World Human Rights (ELDH) nahm am 22. Januar 2025 an der Urteilsverkündung des maltesischen Berufungsgerichts betreffend die Frage der Zuständigkeit der maltesischen Gerichte im Verfahren gegen die sogenannten «El Hiblu 3» teil. Die drei Geflüchteten, von denen zwei vor Gericht erschienen, sehen sich fast sechs Jahre nach ihrer Überfahrt über das Mittelmeer weiterhin mit schweren strafrechtlichen Vorwürfen konfrontiert, wobei bis zum heutigen Tag vor Gericht lediglich formelle Fragen beurteilt wurden. Die Prozessbeobachterinnen sind zutiefst besorgt über den Verlauf des Prozesses in Malta.

Die Terrorismusvorwürfe gemäss heute noch nicht materiell behandelter Anklageschrift stehen in einem erheblichen Missverhältnis zu den Schilderungen der Angeklagten, aber auch zum Sachverhalt, wie er von der Anklagebehörde dargestellt wird. Es dürfte sich daher eher um politisch motivierte als sachlich begründete Vorwürfe handeln – es handelt sich um einen Prozess ganz im Sinne der europäischen Abschottungspolitik, der abschreckende Wirkung erzeugen soll. Er reiht sich ein in eine Vielzahl von Verfahren, die auf die Kriminalisierung von Menschen auf der Flucht abzielen.

Sachverhalt

Am 28. März 2019 geriet ein Schlauchboot mit Geflüchteten auf dem Mittelmeer in Seenot. Die Besatzung des Frachters «El Hiblu 1» konnte 100 Schutzsuchende – auf Anweisung von einem Flugzeug der europäischen Militäroperation Eunavfor Med vor dem Ertrinken retten. Die Crew versuchte anschliessend, die Geretteten nach Libyen zurückzubringen. Kurz vor der Ankunft in Libyen protestierten die Flüchtenden gegen den rechtswidrigen Pushback. Der Kapitän bat drei englischsprechende Jugendliche die verzweifelten Passagiere zu beruhigen und für ihn zu dolmetschen. Schliesslich steuerte der Kapitän das Schiff nach Malta. Gegenüber den maltesischen Behörden gab der Kapitän an, er habe die Kontrolle über das Schiff verloren. Als sich das Schiff in maltesischen Gewässern befand, wurde es von Sicherheitskräften gestürmt und die drei Jugendlichen wurden verhaftet. Die Vorwürfe, die im Strafverfahren gegen sie erhoben werden, sind so schwerwiegend, dass ihnen eine lebenslange Haftstrafe droht.

Prozessstand und Argumentation der Parteien

Am heutigen Verhandlungstag entschied das Berufungsgericht über die Zuständigkeit der maltesischen Gerichte zur Behandlung der Anklage. Die Verteidigung, die gegen den erstinstanzlichen Entscheid betreffend die Zuständigkeit vom 30. Mai 2024 Berufung eingelegt hatte, argumentierte, dass gemäss Artikel 5 des maltesischen Strafgesetzbuches die maltesischen Gerichte territorial nicht zuständig seien, da die vorgeworfenen Handlungen ausserhalb der maltesischen Hoheitsgewässer stattgefunden hatten.

Demgegenüber stellte sich die Anklagebehörde auf den Standpunkt, dass die angeklagten Taten als fortlaufende Straftaten zu betrachten seien. Diese hätten sich in internationalen Gewässern zugetragen und bis in maltesische Hoheitsgewässer erstreckt, weshalb sie die Zuständigkeit Maltas begründeten.

Das Berufungsgericht bestätigte an der heutigen Urteilsverkündung den Entscheid des erstinstanzlichen Gerichts, ohne aber dieses Ergebnis mündlich zu begründen.

Beobachtungen der Demokratischen Jurist*innen

Die Prozessbeobachtungsdelegation stellt fest, dass es der Vorsitzende des Dreiergremiums unterliess, den mündlich eröffneten Entscheid zu begründen. Die Urteilsverkündung dauerte ca. eine Minute. Der Vorsitzende verwies auf die schriftliche Begründung, die am Nachmittag veröffentlicht werden soll. Die Urteilseröffnung erfolgte in englischer Sprache, der Vorsitzende sprach aber so leise, dass die Delegation ihn nicht verstand.

Die Namen der Angeklagten werden in der der öffentlich zugänglichen Urteilsbegründung genannt und damit der breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht. Dies ist aus unserer Sicht äusserst bedenklich, da die Angeklagten als Folge davon längerfristig sowohl in ihrem privaten als auch beruflichen Leben mit dem entsprechenden Strafverfahren in Verbindung gebracht werden dürften. Dies dürfte zu einer Vorverurteilung führen und verletzt damit nicht nur die Unschuldsvermutung, sondern auch das Recht auf Rehabilitation nach einer allfälligen Verurteilung und Absitzen der Strafe.

Forderungen

Die DJS und die ELDH appellieren an die maltesischen Justizbehörden, die politisch motivierte Strafverfolgung zu beenden und das Strafverfahren einzustellen. Weiter fordern die DJS und die ELDH ein Ende der Kriminalisierung von Geflüchteten.

 

Sonja Comte, MLaw, Rechtsanwältin, Mitglied DJS Bern
Lea Schlunegger, MLaw, Rechtsanwältin, Generalsekretärin DJS, Member of Executive Committee ELDH

 

Manifest: Grundrechte für alle, auch an den Grenzen!

  • Datum: 20-06-2024 00:00
  • Titel: Manifest: Grundrechte für alle, auch an den Grenzen!
  • Haupttext:

    Ein stilles Drama geht seit Jahren auf den Meeren und an den Grenzen Europas vor sich und schafft es nur gelegentlich in die Medien. Seit 1993 sind über 60'620 Kinder, Frauen und Männer gestorben. Oder müssen wir die Frage stellen, ob sie getötet wurden? Von einer immer härteren Politik der Länder Europas, die verhindert, dass diese Menschen legal in Europa einreisen können, um hier ein Asylgesuch zu stellen. Sie müssen vor lebensgefährlichen Situationen fliehen und setzen ihr Leben aufs Spiel. Sie verharren in unwürdigen Flüchtlingslagern ohne angemessene Versorgung oder das Wissen, ob, wann und wie es weiter geht. Darüber sind wir entsetzt und fordern sichere Fluchtwege! Mit verschiedenen Aktionen und einem Mahnmal gedenken wir der Opfer und protestieren öffentlich gegen die unhaltbare Situation. Manifest «Menschen schützen – auch an den Grenzen» Die im Dezember 2023 beschlossene Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) steht vor der Umsetzung.1 Sie sieht unter anderem vor: dass geflüchtete Menschen, auch Familien mit Kindern, an den EU-Aussengrenzen in riesigen Flüchtlingslagern unter haftähnlichen Bedingungen untergebracht werden; dass dort Grenzverfahren ohne genügenden Rechtsschutz stattfinden. Diese Verfahren sollen, u.a. für alle Menschen durchgeführt werden, die aus einem Land kommen, für das es weniger als 20% Chance auf ein Bleiberecht gibt. Ziel ist es, mit schnellen Ablehnungen und Rückführungen in das Heimatland oder ein vermeintlich sicheres Drittland, weitere Schutzsuchende abzuschrecken; dass die Personen, denen ein reguläres Asylverfahren gewährt wird, unter gewissen Bedingungen nach einem Verteilschlüssel den europäischen Ländern zugewiesen werden. Die Länder, die niemanden aufnehmen wollen, können sich davon freikaufen oder Personal an die Aussengrenzen schicken. Damit werden Symptome statt Ursachen bekämpft. Migration lässt sich so nicht verhindern und die verheerenden Zustände an den EU-Aussengrenzen (wie z.B. in Griechenland) werden nicht verbessert – im Gegenteil. Das neue GEAS hat für Schutzsuchende drastische Verschlechterungen zur Folge. Die geplanten Massnahmen verletzen die Grundprinzipien nationaler, europäischer und internationaler Rechtsabkommen, die jedem Menschen aufgrund seines Menschseins zustehen.2 Die Entwicklungen an den EU-Aussengrenzen gehen auch die Schweiz etwas an, nicht bloss aufgrund des Schengen- und des Dublin-Abkommens, sondern auch als Geburtsstätte der Genfer Flüchtlingskonvention. Der Abbau von Grundrechten bedroht uns alle! Wir sagen: Nicht in unserem Namen! Wir wollen eine offene Gesellschaft und sagen Nein zu Abschreckung und Abschottung! Es braucht eine angstfreie, zukunftsweisende Gestaltung der Migration. Wir fordern den Bundesrat/die Bundesregierung auf, sich im Rahmen unserer Schengen/Dublin-Assoziierung für die Einhaltung von Menschenrechtsstandards und die vollumfängliche Respektierung der Rechte von Asylsuchenden einzusetzen; die Aushöhlung der Genfer Flüchtlingskonvention und weiterer völkerrechtlicher Verträge konsequent sowohl im innen- als auch im aussenpolitischen Kontext zu bekämpfen; im Rahmen des Solidaritätsmechanismus freiwillig eine angemessene Zahl Asylsuchende zu übernehmen. Die Anerkennung der Würde und der gleichen Rechte aller Menschen ist die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt. Gefragt sind Schritte, die in diese Richtung führen. Du kannst das Manifest gleich hier unterzeichnen, herunterladen oder in gedruckter Form hier bestellen. Erstunterzeichnende Organisationen: Aktionsgruppe Nothilfe, AsyLex, Be Aware And Share (BAAS), Begegnung mit Menschen auf der Flucht, Beim Namen nennen, Bündnis noGEAS, Campax, ChristNet, Demokratische Jurist*innen der Schweiz, Diakonie Dortmund und Lünen, Ev. Kirchenkreis Dortmund/Referat Ökumene, Freiplatzaktion Basel, Freiplatzaktion Zürich, Frieda - die feministische Friedensorganisation (ehemals cfd), humanrights.ch, Jesuiten-Flüchtlingsdienst Schweiz, IAMANEH, medico international schweiz, netzwerk migrationscharta.ch, oikos-Institut für Mission und Ökumene EKvW, Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht, Seebrücke Schweiz, solinetze.ch, sosf - Solidarité sans frontières, Verein Offenes Scherli Erstunterzeichnende Personen: Alec von Graffenried, Anni Lanz, Balthasar Glättli, Carlo Sommaruga, Cécile Bühlmann, Cédric Wermuth, Christoph Sigrist, Delphine Klopfenstein Broggini, Elham Manea, Greis, Jacques Poget, Jean Ziegler und Erica Deuber Ziegler, Jean-Marie Lovey, Kaspar Surber, Lara Stoll, Lisa Mazzone, Superintendentin Heike Proske für den Kirchenkreis Dortmund, Mario Botta, Mattea Meyer, Michael Elsener, Milo Rau, Norbert Valley, Omri Ziegele, Paul Rechsteiner, Ralph Kunz, Rubin Gjeci, Ruth-Gaby Vermot-Mangold, Vania Alleva, Xavier Koller 1 Nach der Einigung im Europarat vom 8. Februar 2024 und der Zustimmung des zuständigen Ausschusses des europäischen Parlaments am 14. Februar, hat die Plenarversammlung des Parlaments am 10. April der Vorlage zugestimmt. 2 Gefährdet sind in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: Art. 9: Niemand darf willkürlich festgenommen, in Haft gehalten oder des Landes verwiesen werden; Art. 14: Jeder Mensch hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgungen Asyl zu suchen und zu geniessen. In der Europäischen Menschenrechtskonvention: Art. 3: Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden; Art. 5: Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. In der Genfer Flüchtlingskonvention: Art. 33,1: Keiner der vertragschliessenden Staaten wird einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit (...) bedroht sein würde.

Ein stilles Drama geht seit Jahren auf den Meeren und an den Grenzen Europas vor sich und schafft es nur gelegentlich in die Medien. Seit 1993 sind über 60'620 Kinder, Frauen und Männer gestorben. Oder müssen wir die Frage stellen, ob sie getötet wurden? Von einer immer härteren Politik der Länder Europas, die verhindert, dass diese Menschen legal in Europa einreisen können, um hier ein Asylgesuch zu stellen.

Sie müssen vor lebensgefährlichen Situationen fliehen und setzen ihr Leben aufs Spiel. Sie verharren in unwürdigen Flüchtlingslagern ohne angemessene Versorgung oder das Wissen, ob, wann und wie es weiter geht. Darüber sind wir entsetzt und fordern sichere Fluchtwege! Mit verschiedenen Aktionen und einem Mahnmal gedenken wir der Opfer und protestieren öffentlich gegen die unhaltbare Situation.

Manifest «Menschen schützen – auch an den Grenzen»

Die im Dezember 2023 beschlossene Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) steht vor der Umsetzung.1 Sie sieht unter anderem vor:

  • dass geflüchtete Menschen, auch Familien mit Kindern, an den EU-Aussengrenzen in riesigen Flüchtlingslagern unter haftähnlichen Bedingungen untergebracht werden;
  • dass dort Grenzverfahren ohne genügenden Rechtsschutz stattfinden. Diese Verfahren sollen, u.a. für alle Menschen durchgeführt werden, die aus einem Land kommen, für das es weniger als 20% Chance auf ein Bleiberecht gibt. Ziel ist es, mit schnellen Ablehnungen und Rückführungen in das Heimatland oder ein vermeintlich sicheres Drittland, weitere Schutzsuchende abzuschrecken;
  • dass die Personen, denen ein reguläres Asylverfahren gewährt wird, unter gewissen Bedingungen nach einem Verteilschlüssel den europäischen Ländern zugewiesen werden. Die Länder, die niemanden aufnehmen wollen, können sich davon freikaufen oder Personal an die Aussengrenzen schicken.

Damit werden Symptome statt Ursachen bekämpft. Migration lässt sich so nicht verhindern und die verheerenden Zustände an den EU-Aussengrenzen (wie z.B. in Griechenland) werden nicht verbessert – im Gegenteil. Das neue GEAS hat für Schutzsuchende drastische Verschlechterungen zur Folge. Die geplanten Massnahmen verletzen die Grundprinzipien nationaler, europäischer und internationaler Rechtsabkommen, die jedem Menschen aufgrund seines Menschseins zustehen.2

Die Entwicklungen an den EU-Aussengrenzen gehen auch die Schweiz etwas an, nicht bloss aufgrund des Schengen- und des Dublin-Abkommens, sondern auch als Geburtsstätte der Genfer Flüchtlingskonvention.

Der Abbau von Grundrechten bedroht uns alle! Wir sagen: Nicht in unserem Namen! Wir wollen eine offene Gesellschaft und sagen Nein zu Abschreckung und Abschottung! Es braucht eine angstfreie, zukunftsweisende Gestaltung der Migration.

Wir fordern den Bundesrat/die Bundesregierung auf,

  • sich im Rahmen unserer Schengen/Dublin-Assoziierung für die Einhaltung von Menschenrechtsstandards und die vollumfängliche Respektierung der Rechte von Asylsuchenden einzusetzen;
  • die Aushöhlung der Genfer Flüchtlingskonvention und weiterer völkerrechtlicher Verträge konsequent sowohl im innen- als auch im aussenpolitischen Kontext zu bekämpfen;
  • im Rahmen des Solidaritätsmechanismus freiwillig eine angemessene Zahl Asylsuchende zu übernehmen.

Die Anerkennung der Würde und der gleichen Rechte aller Menschen ist die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt. Gefragt sind Schritte, die in diese Richtung führen.

Du kannst das Manifest gleich hierunterzeichnen, herunterladen oder in gedruckter Form hier bestellen.

Erstunterzeichnende Organisationen: Aktionsgruppe Nothilfe, AsyLex, Be Aware And Share (BAAS), Begegnung mit Menschen auf der Flucht, Beim Namen nennen, Bündnis noGEAS, Campax, ChristNet, Demokratische Jurist*innen der Schweiz, Diakonie Dortmund und Lünen, Ev. Kirchenkreis Dortmund/Referat Ökumene, Freiplatzaktion Basel, Freiplatzaktion Zürich, Frieda - die feministische Friedensorganisation (ehemals cfd), humanrights.ch, Jesuiten-Flüchtlingsdienst Schweiz, IAMANEH, medico international schweiz, netzwerk migrationscharta.ch, oikos-Institut für Mission und Ökumene EKvW, Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht, Seebrücke Schweiz, solinetze.ch, sosf - Solidarité sans frontières, Verein Offenes Scherli 

Erstunterzeichnende Personen: Alec von Graffenried, Anni Lanz, Balthasar Glättli, Carlo Sommaruga, Cécile Bühlmann, Cédric Wermuth, Christoph Sigrist, Delphine Klopfenstein Broggini, Elham Manea, Greis, Jacques Poget, Jean Ziegler und Erica Deuber Ziegler, Jean-Marie Lovey, Kaspar Surber, Lara Stoll, Lisa Mazzone, Superintendentin Heike Proske für den Kirchenkreis Dortmund, Mario Botta, Mattea Meyer, Michael Elsener, Milo Rau, Norbert Valley, Omri Ziegele, Paul Rechsteiner, Ralph Kunz, Rubin Gjeci, Ruth-Gaby Vermot-Mangold, Vania Alleva, Xavier Koller

1 Nach der Einigung im Europarat vom 8. Februar 2024 und der Zustimmung des zuständigen Ausschusses des europäischen Parlaments am 14. Februar, hat die Plenarversammlung des Parlaments am 10. April der Vorlage zugestimmt.

2 Gefährdet sind in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: Art. 9: Niemand darf willkürlich festgenommen, in Haft gehalten oder des Landes verwiesen werden; Art. 14: Jeder Mensch hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgungen Asyl zu suchen und zu geniessen. In der Europäischen Menschenrechtskonvention: Art. 3: Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden; Art. 5: Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. In der Genfer Flüchtlingskonvention: Art. 33,1: Keiner der vertragschliessenden Staaten wird einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit (...) bedroht sein würde.

 

 

Mykonos 3

Foto © Dimitris Kiriakakis auf Unsplash

Mykonos 3 I Fall hängig 

 

Geschehnisse

H. und B., beide syrische Staatsangehörige, sowie K., ein ägyptischer Staatsangehöriger, verliessen am 16. Juni 2022 mit einem Segelschiff die Türkei. H. und B. verliessen Syrien wegen des Krieges; sie wollten nicht zum Militärdienst gezwungen werden. H. war Student in Syrien; er hat eine Familie und zwei Kinder. Sein Ziel war es, in die Europäische Union zu reisen, um sich über Italien seinem Bruder in Dänemark anzuschliessen. B. war ebenfalls Student in Syrien, im dritten Jahr seines Jurastudiums. Er hoffte, die Niederlande zu erreichen, um dort zu arbeiten und seine Familie finanziell zu unterstützen. K. verliess Ägypten wegen der ungünstigen wirtschaftlichen Bedingungen.

Die drei bezahlten einen Schleuser, der sie zusammen mit 116 weiteren Passagieren nach Italien bringen sollte. Die Gruppe verliess die Türkei am 16. Juni 2022. Nach zwei Tagen auf See riss das Segel und es trat Wasser ins Boot ein. Kein Schiff in der Umgebung kam dem Segelboot zu Hilfe. Erst um 1 Uhr morgens traf schliesslich, nach Alarmierung durch die Menschen an Bord, die Küstenwache ein. Diese begann das Schiff abzuschleppen und steuerte es in Richtung der Insel "Agios Georgios Baos". Doch das Seil riss, das Boot trieb erneut ab, lief schliesslich in einer felsigen Gegend der Insel auf Grund und zerbrach in zwei Teile. An der Rettungsaktion waren drei Patrouillenboote, Schlepper, Privatboote und Flugzeuge beteiligt. Keiner der Überlebenden trug Schwimmwesten, und das Segelboot verfügte über keinerlei Rettungsausrüstung. 108 Menschen wurden gerettet, doch acht Personen, darunter drei Minderjährige, ertranken. In ihren Aussagen konnten die Küstenwachebeamten nicht erklären, warum sie das Segelschiff ostwärts schleppte, anstatt die Gruppe zu retten und in einen sicheren Hafen zu bringen. Das Human Rights Legal Project vermutet, dass die Küstenwache versucht hat, die Gruppe in die Türkei zurückzuschieben.

Im Juni 2022 wurden H., B. und K. verhaftet obwohl der tatsächliche Kapitän des Schiffes sowie sein Assistent von den anderen Passagieren namentlich benannt wurden. Es gab keine Ermittlungen in diese Richtung. Die Angeklagten befinden sich seit Juni 2022 aufgrund eines anfänglichen vorläufigen Haftbefehls im Gefängnis von Chios.

Verfahren

Die Beschuldigten sind nach Artikel 30 Absatz 1 d) des Gesetzes 4251/2014 (sog. "Anti-Immigrationsgesetz") angeklagt. Ihnen wird vorgeworfen, die "illegale Beförderung von Drittstaatsangehörigen nach Griechenland zum Zweck der Gewinnerzielung unter gefährlichen Bedingungen, die zum Tod von acht Menschen führten", begangen zu haben. Nach Artikel 4251/2014 Absatz 1 drohen den Angeklagten lebenslange Freiheitsstrafen sowie Geldstrafen von mindestens 700.000 Euro für jede beförderte Person an Bord.

Der Fall wurde am 15. Dezember 2022 in erster Instanz vom Berufungsgericht der Ägäis in Syros verhandelt. Während der Verhandlung beantragten die Anwält*innen von HRLP eine Änderung der Anklage: von der "Beförderung, aus der eine Gefahr für Menschen entstehen konnte und bei der ein Todesfall eingetreten ist" hin zur "Erleichterung der Einreise" nach Artikel 29 Absatz 5, wonach "wer die Einreise von Drittstaatsangehörigen, die kein Einreiserecht besitzen, unter Umgehung der vorgesehenen Kontrollen erleichtert, mit einer Freiheitsstrafe von bis zu 10 Jahren bestraft wird". Auf Grundlage dieser Argumentation und unter Berücksichtigung eines mildernden Umstands erliess das Gericht das Urteil Nr. 77/2022. Es akzeptierte die Argumentation und verurteilte jeden der Angeklagten zu fünf Jahren und einem Monat Freiheitsstrafe.

Die Angeklagten haben gegen das Urteil Nr. 77/2022 des erneut Berufung eingelegt. Die Berufungsverhandlung war am 8. Februar 2024. 

Die Anwält*innen von HRLP hofften, entweder einen Freispruch oder eine weitere Strafminderung zu erreichen, die zur Freilassung der Angeklagten führen könnte. Sie wollen dazu einen weiteren mildernden Umstand vorbringen, der auf der Unschuld der Angeklagten und ihrem guten Verhalten in Haft basiert.

Artikel aus den lokalen Medien über den Schiffbruch: cyclades24.gr

Unterstützung durch den PBLF

Beitrag an Gerichtsgebühren sowie an die Arbeit der Anwält:innen.

Naomi

Foto © Matt Hardy auf Unsplash
 
Naomi Appeal I Fall hängig 
 
Im März 2022 erreichten Naomi, hochschwanger, und ihr Mann Felly mit anderen Asylsuchenden die Insel Samos. Ihr Boot kenterte nach einem Eingriff der Küstenwache, einige Menschen wurden zurückgeschoben. Naomi und Felly überlebten, wurden jedoch drei Tage später von der Hafenpolizei aufgegriffen, misshandelt, ihres Geldes beraubt und zusammen mit Minderjährigen unter unwürdigen Bedingungen im Kofferraum eines Fahrzeugs festgehalten. Trotz akuter Notlage erhielt Naomi erst Stunden später medizinische Hilfe. Sie verlor ihr Kind. Naomi und ihr Ehemann sind durch dentragischen Verlust ihres Babys und den schweren Missbrauch traumatisiert.
 

Geschehnisse

Im März 2022, als Naomi im 9. Monat schwanger war, erreichte sie und ihr Ehemann zusammen mit einer grösseren Gruppe Asylsuchender die griechische Insel Samos. Ihr Boot wurde von einem Schiff der Hellenischen Küstenwache (HGC) entdeckt. Nach Versuchen der HGC, sie zu stoppen, kenterte das Boot. Einige der Geflüchteten wurden umgehend von griechischen Beamten festgenommen und noch am selben Tag zurückgeschoben. Naomi und Felly gelang es jedoch, das Land zu erreichen und sich in einem Waldgebiet zu verstecken. Drei Tage später wurden sie von Einheimischen gefunden, die Hilfe riefen. Daraufhin traf die Hafenpolizei ein und nahm Naomi und Felly fest. Während ihrer Inhaftierung wurden sie zusammen mit zwei unbegleiteten Minderjährigen im Kofferraum eines Lieferwagens festgehalten. Sie hatten keinen Zugang zu Kommunikationsmitteln und die Bedingungen im Van waren unhygienisch. Weiterhin gaben sie an, dass die Polizei ihnen das wenige Bargeld, das sie bei sich hatten,"konfisziert" bzw. gestohlen und sie körperlich misshandelt hatten. Trotz Naomis offensichtlichem und dringendem Bedarf an medizinischer Hilfe als hochschwangere Frau, wurde sie erst fünf Stunden später ins Krankenhaus gebracht, obwohl sie explizit darum gebeten hatte, einen Arzt aufzusuchen. Ihr Kind starb.
 

Verfahren

Im Mai 2022 entschieden sich Naomi und Felly, eine Klage gegen die Verantwortlichen einzureichen. Diese Klage umfasste Vorwürfe von rassistischer und körperlicher Gewalt, Diebstahl, Aussetzung in Todesgefahr, Entführung und erzwungenes Verschwindenlassen, illegale Inhaftierung und versuchte rechtswidrige Zurückweisung (Refoulement). Zudem wurde argumentiert, dass diese Vorkommnisse eine Verletzung der Artikel 2, 3, 5, 8, 13 und 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) darstellten.

Die Klage wurde an das Seegericht verwiesen, da es sich um mutmassliche Handlungen und Unterlassungen von Hafenpolizeibeamten handelte. Die Staatsanwaltschaft des Seegerichts ordnete an, dass die interne Polizei (Internal Affairs) die Voruntersuchung durchführt. Im Mai 2024 folgte jedoch mit der Begründung nicht ausreichender Beweise, die Einstellung durch die Staatsanwaltschaft.

Nach einer genauen Prüfung der Akten stellte das Rechtsteam des Human Rights Legal Project eine Reihe von Fehlern und Versäumnissen in der Durchführung der Voruntersuchung durch die Polizeibeamten fest, darunter das Fehlen von Vorladungen zur Aussage identifizierter Verdächtiger und der Besatzung der beteiligten Boote, sowie mangelhafte oder unangemessene Übersetzungen. Auch die Bewertung des vorhandenen Materials durch die Staatsanwaltschaft des Seegerichts wurde als unzureichend befunden. Als Reaktion darauf wurde am 30. Juni 2024 Berufung eingelegt.

Unterstützung durch den PBLF

Beitrag für die Arbeit der rechtlichen Expertiese und Abklärung bei der Vorbereitung der Beschwerde, an Gerichtskosten sowie an Gebüren und Auslagen für die Verfassung der Beschwerdeschrift.

NKVF-Bericht: Menschenrechte gelten auch in der Nothilfe

  • Datum: 11-02-2022 00:00
  • Titel: NKVF-Bericht: Menschenrechte gelten auch in der Nothilfe
  • Haupttext:

    Der kantonale Sicherheitsdirektor, Regierungsrat Philippe Müller, legt in seiner Reaktion auf den Bericht der Nationalen Kommission zur Verhütung der Folter (NKVF) über die Berner «Rückkehrzentren» ein höchst fragwürdiges Rechtsstaatsverständnis an den Tag und wirft der NKVF zu Unrecht vor, eine politische Bewertung vorgenommen zu haben.


    Zunächst verkennt der Sicherheitsdirektor, dass menschenrechtliche Ansprüche unabhängig davon bestehen, ob eine Person in der Schweiz rechtmässig anwesend ist. Die Menschenrechte schränken mithin den Staat ein, Menschen für ihre blosse Anwesenheit zu sanktionieren. Die Nothilfe soll Menschen schützen; sie als Druckmittel zu verwenden widerspricht ihrem Sinn und Zweck. Diesen rechtlichen Schranken und Vorgaben muss sich auch die Berner Sicherheitsdirektion fügen. Der Verweis auf die gesetzlichen Rahmenbedingungen, die den Kanton angeblich zu einem harschen Nothilferegime verpflichteten, vermag deshalb die Kritik der NKVF nicht zu entkräften. Vielmehr sind die Behörden gehalten, einen menschenrechtskonformen Weg innerhalb dieses Rahmens zu suchen und den Handlungsspielraum im Interesse der Betroffenen zu nutzen. Dass ein solcher besteht, wird denn auch seitens Sicherheitsdirektion selbst eingeräumt.

    Die Unterbringung von Nothilfebeziehenden liegt in der Verantwortung des Kantons. Von dieser Verantwortung kann sich die Sicherheitsdirektion weder durch Vorwürfe an die Gemeinden noch durch Berufung auf einen angeblichen politischen Konsens entledigen.

    Mit seiner Argumentation bezieht sich der Sicherheitsdirektor offensichtlich selbst nicht auf die rechtlichen Rahmenbedingungen. Unter Verweis auf politische Umstände wird von grund- und menschenrechtlichen Verpflichtungen abgelenkt.

    Schliesslich wird den von Nothilfe betroffenen Menschen die Fähigkeit abgesprochen, ihre eigene Situation und insbesondere die Gefährdungslage im Herkunftsland adäquat einzuschätzen und dementsprechend selbst zu handeln. Das zeigt sich auch an der Instrumentalisierungskritik des Sicherheitsdirektors gegenüber zivilgesellschaftlichen Akteur*innen, die sich mit den Betroffenen für eine Verbesserung ihrer Lebensumstände einsetzen. Mit dem Absprechen von selbstständigem Beurteilen und Handeln werden rassistische Stereotype bedient.

    Die Demokratischen Jurist*innen Bern fordern die zuständigen Behörden auf, die Empfehlungen der NKVF mit der angezeigten Dringlichkeit und Ernsthaftigkeit umzusetzen. Die faktische Unmöglichkeit einer Rückkehr – wie sie beispielsweise bei Afghan*innen augenfällig ist – ist anzuerkennen. Eine menschenrechtskonforme Unterbringung ist dringend zu gewährleisten und Zukunftsperspektiven sind zu schaffen.

Der kantonale Sicherheitsdirektor, Regierungsrat Philippe Müller, legt in seiner Reaktion auf den Bericht der Nationalen Kommission zur Verhütung der Folter (NKVF) über die Berner «Rückkehrzentren» ein höchst fragwürdiges Rechtsstaatsverständnis an den Tag und wirft der NKVF zu Unrecht vor, eine politische Bewertung vorgenommen zu haben.

Zunächst verkennt der Sicherheitsdirektor, dass menschenrechtliche Ansprüche unabhängig davon bestehen, ob eine Person in der Schweiz rechtmässig anwesend ist. Die Menschenrechte schränken mithin den Staat ein, Menschen für ihre blosse Anwesenheit zu sanktionieren. Die Nothilfe soll Menschen schützen; sie als Druckmittel zu verwenden widerspricht ihrem Sinn und Zweck. Diesen rechtlichen Schranken und Vorgaben muss sich auch die Berner Sicherheitsdirektion fügen.Der Verweis auf die gesetzlichen Rahmenbedingungen, die den Kanton angeblich zu einem harschen Nothilferegime verpflichteten, vermag deshalb die Kritik der NKVF nicht zu entkräften. Vielmehr sind die Behörden gehalten, einen menschenrechtskonformen Weg innerhalb dieses Rahmens zu suchen und den Handlungsspielraum im Interesse der Betroffenen zu nutzen. Dass ein solcher besteht, wird denn auch seitens Sicherheitsdirektion selbst eingeräumt.

Die Unterbringung von Nothilfebeziehenden liegt in der Verantwortung des Kantons. Von dieser Verantwortung kann sich die Sicherheitsdirektion weder durch Vorwürfe an die Gemeinden noch durch Berufung auf einen angeblichen politischen Konsens entledigen.

Mit seiner Argumentation bezieht sich der Sicherheitsdirektor offensichtlich selbst nicht auf die rechtlichen Rahmenbedingungen. Unter Verweis auf politische Umstände wird von grund- und menschenrechtlichen Verpflichtungen abgelenkt.

Schliesslich wird den von Nothilfe betroffenen Menschen die Fähigkeit abgesprochen, ihre eigene Situation und insbesondere die Gefährdungslage im Herkunftsland adäquat einzuschätzen und dementsprechend selbst zu handeln. Das zeigt sich auch an der Instrumentalisierungskritik des Sicherheitsdirektors gegenüber zivilgesellschaftlichen Akteur*innen, die sich mit den Betroffenen für eine Verbesserung ihrer Lebensumstände einsetzen. Mit dem Absprechen von selbstständigem Beurteilen und Handeln werden rassistische Stereotype bedient.

Die Demokratischen Jurist*innen Bern fordern die zuständigen Behörden auf, die Empfehlungen der NKVF mit der angezeigten Dringlichkeit und Ernsthaftigkeit umzusetzen. Die faktische Unmöglichkeit einer Rückkehr – wie sie beispielsweise bei Afghan*innen augenfällig ist – ist anzuerkennen. Eine menschenrechtskonforme Unterbringung ist dringend zu gewährleisten und Zukunftsperspektiven sind zu schaffen.

No Returns to Greece - Für Dublin-Rücküberstellte besteht die reale Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung

  • Titel: No Returns to Greece - Für Dublin-Rücküberstellte besteht die reale Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung
  • Untertitel Aktuell: Dieses Gutachten bewertet die Risiken und Bedingungen, denen Asylsuchende, insbesondere Dublin-Rücküberstellte, in Griechenland ausgesetzt sind. Trotz rechtlicher Rahmenbedingungen, die angemessene Aufnahmebedingungen und faire Asylverfahren gewährleisten sollen, bestehen erhebliche Mängel, die ernsthafte Bedenken hinsichtlich der menschenrechtlichen Folgen einer Rückführung nach Griechenland im Rahmen der Dublin-III-Verordnung aufwer

Dieses Gutachten bewertet die Risiken und Bedingungen, denen Asylsuchende, insbesondere Dublin-Rücküberstellte, in Griechenland ausgesetzt sind. Trotz rechtlicher Rahmenbedingungen, die angemessene Aufnahmebedingungen und faire Asylverfahren gewährleisten sollen, bestehen erhebliche Mängel, die ernsthafte Bedenken hinsichtlich der menschenrechtlichen Folgen einer Rückführung nach Griechenland im Rahmen der Dublin-III-Verordnung aufwerfen.

Hier finden Sie das Gutachten.

Dublin-System und vormals suspendierte Dublin-Überstellungen nach Griechenland

Abschnitt I bietet einen Überblick über den rechtlichen Rahmen des Dublin-Systems sowie dessen Grundsätze wie die widerlegbare Vermutung eines gleichwertigen Schutzes in den Mitgliedstaaten (I.1). Darüber hinaus werden die Entwicklungen nach den zwei Grundsatzurteilen von 2011 – des EGMR in M.S.S. gegen Belgien und Griechenland und des EuGH in der gemeinsamen Rechtssache N.S. gegen Secretary of State und M.E. gegen Refugee Applications Commissioner – dargestellt (I.2). Zudem wird die jüngste Rechtsprechung des EGMR kurz diskutiert, der im Oktober 2024 mit dem Urteil H.T. gegen Deutschland und Griechenland bekräftigt hat, dass die Dublin-Überstellung einer asylsuchenden Person nach Griechenland einen Verstoß gegen das Verbot der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung gemäß Artikel 3 EMRK darstellen kann (I.4).

Systembedingte Hindernisse für den Zugang zum Asylverfahren in Griechenland

Abschnitt II zeigt nach einer kurzen Darstellung der rechtlichen Grundlagen (II.1) auf, dass asylsuchende Personen nach Dublin-Überstellungen mit erheblichen Hindernissen beim (erneuten) Zugang zum Asylverfahren in Griechenland konfrontiert sind. Es gibt keine gesonderten Verfahrenswege für asylsuchende Personen nach Dublin-Überstellungen, welche ihre faire Behandlung spezifisch gewährleisten würden. Die griechischen Behörden garantieren lediglich, asylsuchende Personen nach Dublin-Überstellungen über das Asylverfahren zu informieren, sichern den Zugang zu diesem Verfahren aber nicht explizit zu (II.2.a). Generell ist das griechische Asylverfahren durch lange Verzögerungen bei der Registrierung gekennzeichnet – auf dem Festland sind Wartezeiten von mehr als 12 Monaten dokumentiert –, wobei die Antragsteller*innen in dieser Zeit in völliger Ungewissheit, ohne Papiere, Unterkunft oder medizinische Versorgung verbleiben (II.2.b). Es besteht ein gravierender Mangel an Übersetzer*innen, der sowohl den Zugang zum Asylverfahren behindert als auch dessen Durchführung verzögert, da Anhörungen verschoben werden müssen oder gar nicht erst angesetzt werden können (II.2.c). Darüber hinaus können asylsuchende Personen nach Dublin-Überstellungen, die dem EU-Türkei-Deal unterstehen, in Gewahrsam genommen werden, um ihre Rückführung auf die ihnen zugewiesene griechische Insel zu vollziehen. Auf den Inseln müssen sie sodann das beschleunigte Grenzverfahren durchlaufen und werden in gefängnisähnlichen Asyllagern untergebracht (II.3). Je nach Staatsangehörigkeit besteht die Gefahr, dass ein Antrag um internationalen Schutz unter der Annahme, die Türkei sei ein sogenannt sicherer Drittstaat, als unzulässig zurückgewiesen wird. In diesen Fällen werden die Asylanträge nicht in der Sache geprüft, sondern es wird die Rückführung in die Türkei angeordnet (II.4.b). Zudem haben die griechischen Behörden in der Vergangenheit nach Dublin-Überstellungen mit Verweis auf die vorangegangene Ausreise aus Griechenland – und eines angeblichen stillschweigenden Rückzugs des Antrags auf internationalen Schutz – Asylverfahren eingestellt. Es gibt keine Hinweise darauf, dass die griechischen Behörden diese Praxis nicht fortsetzen würden (II.4.a).

Prekäre Aufnahme- und Lebensbedingungen

Abschnitt III untersucht die vom EU-Recht geforderten materiellen Mindeststandards für Aufnahmebedingungen (III.1) und deren Umsetzung in Griechenland. Die Unterbringung erfolgt in isolierten Lagern auf dem Festland (III.2.a) oder in gefängnisähnlichen Einrichtungen auf den Ägäis-Inseln (III.2.b). Die Unterbringung in diesen Lagern ist gekennzeichnet durch Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, einschließlich rechtswidriger de-facto-Haft (III.3), und inakzeptable Lebensbedingungen. Dazu gehören unzureichende Infrastruktur, schlechte Instandhaltung (III.4.a) und das Fehlen einer ausreichenden Versorgung mit Lebensmitteln, Wasser (III.4.c) und Hygiene (III.4.a) sowie durch erheblichen Personalmangel und eingeschränkten Zugang zu medizinischer Versorgung (III.4.b). In Berichten von Nichtregierungsorganisationen und internationalen Institutionen wird immer wieder auf die unzureichenden und menschenunwürdigen Aufnahmebedingungen in griechischen Asylunterkünften hingewiesen, wobei Griechenland wiederholt vom EGMR wegen Verletzung der in der EMRK verankerten Grundrechte der Antragsteller verurteilt wurde (III.4).

Routinemässige und rechtswidrige Inhaftierungspraktiken und unzureichende Bedingungen

In Abschnitt IV legt die Expert Opinion zunächst den rechtlichen Rahmen für die Administrativhaft in Griechenland dar ( IV.1) und untersucht dann die entsprechende Praxis in Griechenland. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass asylsuchende Personen nach Dublin-Überstellungen wie andere Asylsuchende dem Risiko einer willkürlichen Inhaftierung ausgesetzt sind, da die griechischen Behörden routinemäßig eine Inhaftierung von Asylsuchenden anordnen, unabhängig davon, ob eine Abschiebung oder Ausschaffung in absehbarer Zeit tatsächlich durchgeführt werden kann oder nicht ( IV.2). Darüber hinaus entsprechen die Hafteinrichtungen nicht den grundlegenden Menschenrechtsstandards, da die Inhaftierten unhygienischen Bedingungen, Überbelegung, fehlender medizinischer Versorgung und unzureichender rechtlicher Unterstützung ausgesetzt sind (IV.3).
Anhaltendes Risiko einer irregulären Abschiebung: Abschnitt V zeigt auf, dass für asylsuchende Personen nach Dublin-Überstellungen weiterhin die Gefahr einer willkürlichen, summarischen Abschiebung über die griechisch-türkischen Land- oder Seegrenzen besteht (V).

Rechtliche und institutionelle Hindernisse für die Justiz

Abschnitt VI beleuchtet, wie Menschen, die internationalen Schutz beantragen wollen, einschließlich Personen nach Dublin-Überstellungen, mit verschiedenen Hindernissen beim Zugang zur Justiz in Griechenland konfrontiert sind. Insbesondere Rechtsmittel gegen Inhaftierung und Menschenrechtsverletzungen sind oft entweder unwirksam oder gar nicht erst verfügbar, da griechische Gerichte es routinemäßig unterlassen, dokumentierte Übergriffe oder Rechtsverletzungen weiter zu untersuchen (VI).

Schlussfolgerung

Die Rückführung von asylsuchende Personen nach Dublin-Überstellungen nach Griechenland birgt ein hohes Risiko von Menschenrechtsverletzungen: In Abschnitt VII legen die Autor*innen schließlich ihre Schlussfolgerung dar, wonach die Rückführung von asylsuchenden Personen nach Griechenland im Rahmen der Dublin-III-Verordnung angesichts der anhaltenden strukturellen Mängel im griechischen Asylsystem, der prekären und entwürdigenden Aufnahmebedingungen und der systematischen Risiken von Inhaftierung und Zurückweisung mit Artikel 3 EMRK und Artikel 4 der EU-Charta unvereinbar wäre (VII).

Hier finden Sie das Gutachten.

Offener Brief an die Sicherheitsdirektion und das Amt für Bevölkerungsdienste des Kantons Bern

  • Datum: 20-07-2020 00:00
  • Titel: Offener Brief an die Sicherheitsdirektion und das Amt für Bevölkerungsdienste des Kantons Bern
  • Haupttext:

    Sicherheitsdirektion des Kantons Bern SID
    Herr Regierungsrat Müller
    Kramgasse 20
    3011 Bern

    Amt für Bevölkerungsdienste ABEV
    Herr Aeschlimann
    Ostermundigenstrasse 99B
    3006 Bern


    Bern, 20. Juli 2020

    Verfassungswidrige Nothilfeweisung


    Sehr geehrter Herr Regierungsrat Müller
    Sehr geehrter Herr Aeschlimann
    Sehr geehrte Damen und Herren

    Bezug nehmend auf die Medienmitteilung der Sicherheitsdirektion «Forderungen der Gruppe ‹Stopp Isolation›: Undemokratisch und unsolidarisch» sowie den von Herrn Aeschlimann unterzeichneten Brief vom 16. Juli 2020 an die genannte Gruppe, erlauben wir uns als Demokratische Jurist*innen Bern (djb) insbesondere zur (Un-)Rechtmässigkeit der in den sogenannten Rückkehrzentren geltenden Anwesenheitspflicht Stellung zu nehmen. Erschreckend fällt auf, dass die veröffentlichten Ausführungen jegliche Auseinandersetzung mit den Grundrechten der Betroffenen vermissen lassen. Nach hier vertretener Auffassung verletzt die seit dem 1. März 2020 geltende – im Internet bisher nicht zugängliche – «Nothilfe- und Gesundheitsweisung (Nothilfeweisung)» jedoch gleich in mehrfacher Hinsicht grundrechtlich geschützte Rechtspositionen und rechtsstaatliche Grundprinzipien.

    Ungenügende gesetzliche Grundlage
    Im Brief an die Gruppe «Stopp Isolation» wird ausgeführt, dass gestützt auf Art. 7 Abs. 1 Bst. d EV AIG und AsylG als nicht bedürftig gelte, wer die angebotenen Leistungen nicht in Anspruch nehmen wolle. Weiter habe das Amt für Bevölkerungsdienste des Kantons Bern (ABEV) in der Nothilfeweisung festgehalten, dass die Personen sich an sieben Tagen die Woche im Rückkehrzentrum aufzuhalten und dort zu übernachten hätten. Bereits aus diesen Ausführungen ergibt sich, dass die Anwesenheits- und Übernachtungspflicht einzig in der genannten Nothilfeweisung verankert ist und damit ohne Abstützung in einem übergeordneten formell-gesetzlichen Erlass eingeführt wurde. Die Auferlegung einer Anwesenheits- und Übernachtungspflicht stellt keinen blossen Realakt dar – dies haben MOECKLI/KIENER bereits hinsichtlich des verwandten Regimes im Kanton Zürich festgestellt (vgl. MOECKLI/KIENER: Hilfe in Notlagen nur bei Anwesenheit in der Notunterkunft? Zum Recht auf Nothilfe von weggewiesenen Asylsuchenden, in: ZBl 119/2018, S. 513 ff.). Im Gegensatz zu einem Realakt, der «nicht auf das Erzeugen einer Rechtswirkung [abzielt], sondern nur die tatsächlichen Verhältnisse zu verändern [sucht]» (MÜLLER: Bernische Verwaltungsrechtspflege, Bern 2011, S. 113), bedeutet die Verknüpfung finanzieller Ansprüche mit der Anwesenheit und der Übernachtung in einem Rückkehrzentrum die Einführung einer zusätzlichen Voraussetzung für die Ausrichtung finanzieller Unterstützung (siehe nachfolgend) und hat damit eine Veränderung der Rechtslage zur Folge. Deshalb ist die Anwesenheits- und Übernachtungspflicht als Rechtsakt zu qualifizieren, der einer gesetzlichen Grundlage bedarf.

    Eine während der Unterbringung in einer staatlichen Einrichtung geltende allgemeine Anwesenheits- und Übernachtungspflicht lässt sich nicht bereits aus dem besonderen Rechtsverhältnis ableiten (vgl. BGE 128 II 156 E. 3b), weshalb eine entsprechende Pflicht gesetzlich explizit verankert werden muss. Angesichts der mit einer Anwesenheitspflicht verbundenen schwerwiegenden Grundrechtseingriffe (siehe nachfolgend) sind darüber hinaus sowohl an Normstufe und Normdichte erhöhte Anforderungen zu stellen, weshalb eine formell-gesetzliche Grundlage unerlässlich ist. Die in der Nothilfeweisung enthaltene Anwesenheits- und Übernachtungspflicht lässt sich aus dem übergeordneten Recht nicht ableiten, weshalb diese ohne Abstützung in einem formell-gesetzlichen Erlass das in Art. 5 Abs. 1 BV allgemein und in Art. 36 Abs. 1 BV spezifisch verankerte Legalitätsprinzip verletzt.

    Verletzung der Gewaltenteilung
    Gestützt auf Art. 6 Abs. 1 EV AIG und AsylG ist das ABEV für die «Gewährung» der Nothilfe zuständig. In den nachfolgenden Artikeln werden weiter die fehlende Bedürftigkeit (Art. 7), Beginn und Ende der Kostenübernahme (Art. 8) sowie die Bargeldauszahlung (Art. 9) geregelt. Eine Delegationsnorm zur weitergehenden Kompetenz des ABEV, betreffend Ausrichtung der Nothilfe über die zitierten Regelungen hinaus, weitere Voraussetzungen, Pflichten oder Sanktionen einzuführen, ist in der EV AIG und AsylG nicht enthalten. Folglich verfügt das ABEV über keinen Spielraum, betreffend Aufenthalts- und Übernachtungspflicht selber legislativ tätig zu werden.

    Wird ein Träger der kantonalen Verwaltung ohne entsprechende formell-gesetzliche Delegation gesetzgeberisch tätig, wird nicht «nur» das Legalitätsprinzip verletzt (Anordnung ungenügender Normstufe), vielmehr verstösst die Regelung an sich zudem gegen das Prinzip der Gewaltenteilung.

    Verletzung des Rechts auf Nothilfe
    Wie in der Medienmitteilung vom 17. Juli 2020 richtig festgehalten, ist das Recht auf Nothilfe verfassungsrechtlich verankert (vgl. Art. 12 BV sowie Art. 29 Abs. 1 KV). Nach konstanter Rechtsprechung des Bundesgerichts fallen Schutzbereich und Kerngehalt des Rechts auf Hilfe in Notlagen zusammen, weshalb Eingriffe in den garantierten Schutzbereich nicht zulässig sind (vgl. BGE 142 I 1 E. 7.2.4).

    Nach der seit dem 1. März 2020 geltenden Nothilfeweisung wird der betroffenen Person bei einem einmaligen Verstoss (Abwesenheit von maximal zwei Tagen/Nächten) ein Verweis erteilt. Wer innerhalb von sechs Monaten erneut gegen die Aufenthalts- und Übernachtungspflicht verstösst (Abwesenheit von einem Tag/einer Nacht), gilt nicht als bedürftig und wird umgehend per Mutationsformular beim ABEV abgemeldet. Wer drei oder mehr Tage/Nächte abwesend ist, wird ohne Verwarnung direkt abgemeldet. Mit der Abmeldung erlöscht der Anspruch der betroffenen Person auf Nothilfeleistungen.

    Zwar kann sich die abgemeldete Person unmittelbar nach der Abmeldung wieder beim ABEV melden und wieder einem Rückkehrzentrum zugewiesen werden. Jedoch unterliegt zum einen die betroffene Person nach der Neuzuteilung indes sofort wieder der Anwesenheits- und Übernachtungspflicht und erhält nur Nothilfe, sofern diese Pflicht eingehalten wird. Zum anderen soll es gestützt auf die Nothilfeweisung sogar möglich sein, eine Neuanmeldung aufgrund mehrfachen «Fehlverhaltens» zu verweigern. Auf diese Weise wird der Anspruch auf Nothilfe mit der Einhaltung der Anwesenheits- und Übernachtungspflicht verknüpft. Im Anwendungsbereich der Nothilfe sind Nebenbestimmungen aber nur insofern zulässig, als diese darauf gerichtet sind, die Ausübung des Grundrechts zu sichern.

    In der Nothilfeweisung wird festgehalten, die Abmeldung erfolge, weil gestützt auf das auswärtige Übernachten auf die Nicht-Bedürftigkeit einer Person geschlossen werden könne. Inwiefern sich aus der Möglichkeit, mindestens ab und zu ausserhalb des Rückkehrzentrums übernachten zu können, der Schluss ziehen lassen soll, eine Person benötige keine (zusätzlichen) staatlichen Mittel, um etwa Nahrungsmittel, Hygieneartikel, Kleidung oder Transport finanzieren zu können, ist nicht ersichtlich. Diesbezüglich ist festzuhalten, dass im Einzelfall keine Verpflichtung besteht, entweder alle oder keine der aus Art. 12 BV fliessenden Leistungen tatsächlich in Anspruch zu nehmen (vgl. SCHEFER: Die Kerngehalte von Grundrechten, Geltung, Dogmatik, inhaltliche Ausgestaltung, Bern 2001, S. 352). Vielmehr hat das Bundesgericht klargestellt, dass Nothilfe auch selektiv, d.h. nur in einzelnen Teilbereichen beansprucht werden kann. Gestützt auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung darf von einer (teilweise) fehlenden Bedürftigkeit in Bezug auf die Unterkunft nicht auf nicht vorhandene Bedürftigkeit betreffend andere – oder gar alle anderen – Leistungen geschlossen werden. Konkret hat das Bundesgericht die Verknüpfung der Nothilfe hinsichtlich der Krankenkassenprämie mit der Anwesenheit in einer Kollektivunterkunft als sachfremd und nicht dienlich zur Sicherstellung einer zweckkonformen Verwendung der staatlichen Leistungen eingestuft (vgl. BGE 138 V 310 E. 5.3). In diesem Sinne hält Art. 7 Abs. 2 EV AIG und AsylG sodann auch fest, dass das ABEV die Vorgaben der Gesetzgebung über die Krankenversicherung zu beachten hat. Über die zu beurteilende Fragestellung im zitierten BGE hinaus, ist die Verknüpfung der Nothilfe mit der Anwesenheit und Übernachtung in einem Rückkehrzentrum auch mit Blick auf andere Nothilfeleistungen als die Krankenversicherung als sachfremd und nicht dienlich zur Sicherstellung einer zweckkonformen Verwendung der staatlichen Leistungen zu betrachten, weshalb die Anwesenheits- und Übernachtungspflicht gemäss Nothilfeweisung das Recht auf Hilfe in Notlagen verletzt und damit verfassungswidrig ist.

    Abgesehen von dieser generellen Unzulässigkeit der Massnahme ist darüber hinaus zu beachten, dass die Sanktionierungsmassnahmen keine Mechanismen zur Bedürftigkeitsprüfung enthalten – im Gegenteil: Die direkte Abmeldung erfolgt automatisch und enthält damit eben gerade keine individuelle Überprüfung der persönlichen Verhältnisse zur Klärung der Bedürftigkeit. Die Anwesenheits- und Übernachtungspflicht resp. die Sanktionierung bei deren Nichteinhaltung sind somit für den vorgegebenen Zweck – die Sicherstellung der Bedürftigkeit der Leistungsempfänger*innen – gänzlich ungeeignet.

    Verletzung von Freiheitsrechten
    Im Schreiben an die Gruppe «Stopp Isolation» vom 16. Juli 2020 wird festgehalten, dass, wer die Pflicht hat, die Schweiz zu verlassen, gewisse Freiheitsbeschränkungen in Kauf nehmen müsse. Selbst wenn dieser Ansicht zugestimmt werden sollte, sind die Behörden sowie die im staatlichen Auftrag handelnden privaten Akteur*innen durch die geltenden Grund- und Menschenrechte gebunden sowie zu deren Einhaltung verpflichtet. Neben den vorherigen Ausführungen, die für alle betroffenen Personen Gültigkeit haben, können – je nach individueller Konstellation – zusätzlich zum Recht auf Hilfe in Notlagen auch andere grundrechtlich geschützten Rechtspositionen von der Anwesenheits- und Übernachtungspflicht betroffen sein: Namentlich stehen mögliche Eingriffe in das Recht auf Bewegungsfreiheit (Art. 10 Abs. 2 BV; Art. 12 Abs. 1 KV) sowie das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 13 Abs. 1 BV; Art. 12 Abs. 3 und Art. 13 Abs. 1 KV; Art. 8 EMRK; Art. 17 UNO-Pakt II) im Vordergrund. Unter Umständen betroffen sind aber auch – wegen des potenziellen Verunmöglichens der Teilnahme an geschützten Aktivitäten – sowohl die Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 15 BV; Art. 14 KV; Art. 9 EMRK; Art. 18 UNO-Pakt II) als auch die Versammlungsfreiheit (Art. 22 BV; Art. 19 KV; Art. 11 EMRK; Art. 21 UNO-Pakt II) und die Vereinigungsfreiheit (Art. 23 BV; Art. 19 KV; Art. 11 EMRK; Art. 22 UNO-Pakt II). Sind Kinder betroffen, ist zudem die UN-Kinderrechtskonvention zu beachten. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit den möglichen Konstellationen würden den Rahmen dieses Briefes jedoch sprengen.

    Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die djb die Anwesenheits- und Übernachtungspflicht gestützt auf die vorstehenden Ausführungen insgesamt als verfassungswidrig und für nicht mit den Prinzipien eines Rechtsstaates vereinbar qualifiziert. Deshalb unterstützen die djb – neben den übrigen Forderungen der Betroffenen – die Forderung nach der Aufhebung der Anwesenheits- und Übernachtungspflicht in den Rückkehrzentren. Sollte die Anwesenheits- und Übernachtungspflicht weiter durchgesetzt werden, sind die djb gerne bereit, Betroffene bei der Beschwerdeführung gegen die entsprechende Regelung zu unterstützen und so immerhin den Zugang zur höchstrichterlichen Überprüfung der Verfassungsmässigkeit zu ermöglichen.


    Mit freundlichen Grüssen

    Moritz Lange,
    Geschäftsleiter Demokratische Jurist*innen Bern (djb)

     

     

     

Sicherheitsdirektion des Kantons Bern SID
Herr Regierungsrat Müller
Kramgasse 20
3011 Bern

Amt für Bevölkerungsdienste ABEV
Herr Aeschlimann
Ostermundigenstrasse 99B
3006 Bern


Bern, 20. Juli 2020

Verfassungswidrige Nothilfeweisung

Pylos Shipwreck

Foto © Annina Mullis

iCase KOINSEP und HRLP I Fall abgeschlossen I Freispruch I Strafverfahren gegen griechische Küstenwache hängig

In den frühen Morgenstunden des 14. Juni 2023 sank in einem Gebiet südwestlich von Pylos in Griechenland ein Fischerboot mit ca. 650 bis 700 Menschen an Bord. Abgesehen von 104 Überlebenden werden mittlerweile alle anderen die an Bord waren als tot vermutet. Von den 104 Überlebenden wurden 9 ausgewählt und als Verantwortliche für den Schiffbruch wegen Menschenscmuggel angeklagt. iCase/OmniaTV, eine unabhängige und investigative Journalist*innenplattform recherchiert den Vorfall mit Methoden der forensichen Architektur, um die Anwält*innenteams der 9 Überlebenden bei der Prozessführung zu unterstützen und sicherzustellen, dass alle verfügbaren Beweise und Zeugenaussagen vor Gericht vorgelegt werden.
 

Geschehnisse

Am frühen Morgen des 14. Juni 2023 kenterte die Adriana, ein stark überladener Fischtrawler, vor der griechischen Küste bei Pylos. Dabei wurden mehr als 600 Menschen in den Tod gerissen. Fünf Tage zuvor war die Adriana von Libyen aus losgefahren. Auf dem Schiff befanden sich mehrheitlich Migrant:innen aus Syrien, Pakistan und Ägypten, darunter auch Kinder.

Menschenrechtsorganisationen befragten 21 Überlebende sowie Angehörige von noch vermissten Personen. Insbesondere wurden auch Vertreter:innen der griechischen Küstenwache, der griechischen Polizei, von Nichtregierungsorganisation sowie der Vereinten Nationen befragt.

Dank der verschiedenen Aussagen konnte festgestellt werden, dass die griechischen Behörden zwischen dem Eingang der ersten Meldung, wonach sich die Adriana in ihrem Such- und Rettungsgebiet befand, und dem Kentern des Bootes fünfzehn Stunden später keine angemessenen Ressourcen für eine Rettung mobilisiert hatten. Dabei waren den Behörden eindeutig bewusst, dass sich die Adriana in einer Notlage befand. Die Überlebenden sagten immer wieder, sie hätten wiederholt um Rettung gebeten, auch bei der Küstenwache selbst.

Das letztendlich durch die Küstenwache entsandte Patrouillenboot war nicht für eine gross angelegte Rettungsaktion ausgerüstet. Es verfügte nur über 43 Rettungswesten, 8 Rettungsringe, 2 aufblasbare Rettungsinseln sowie ein Hilfsschlauchboot. Weitere Mittel wurden nicht mobilisiert, obwohl weitere Schiffe in näheren Häfen zur Verfügung standen.

Die Überlebenden gaben an, dass das Patrouillenboot der Küstenwache ein Seil an der Adriana befestigte und daran zog, wodurch das Boot ins Schwanken geriet und kenterte. Es habe zudem mehrere andere gefährliche Manöver durchgeführt.

Die Rettungsmassnahmen nach dem Kentern wurden viel zu langsam eingeleitet. Somit hat die Küstenwache es versäumt, die Anzahl der geretteten Personen zu maximieren und die Sicherheit der Menschen an Bord zu gewährleisten.

Verfahren

Die laufenden Ermittlungen in Griechenland geben Anlass zur Besorgnis. Die neun angeklagten Überlebenden, die über neun Monate in Haft waren, mussten sich vor einem griechischen Strafgericht verantworten. Ihnen wurde Bildung einer kriminellen Vereinigung, Beihilfe zur illegalen Einreise und Verursachung eines Schiffbruchs vorgeworfen. Im September 2023, zusätzlich zum schon laufenden Strafverfahren, haben jedoch vierzig der Überlebenden beim selben Gericht Klage gegen die griechischen Behörden eingereicht. Auch das Marinegericht hat schon im Juni 2023 eine Untersuchung über die mögliche Verantwortung der Küstenwache eingeleitet.

Seither wurden schwerwiegende Verfahrensmängel festgestellt, welche sich gravierend auf die beiden letzteren Untersuchungen auswirken könnten. So wurden zum Beispiel Mobiltelefone von Überlebenden beschlagnahmt, welche wichtige Beweise zu den Geschehnissen enthalten.

Im Januar 2024 schlossen die griechischen Behörden die Ermittlungen ab und lehnten die weiteren Beweisanträge der Rechtsverteidigung ab. 

Am 21. Mai 2024 verhandelte das Dreiergericht in Kalamata den Fall. Da sich die Tragödie in internationalen Gewässern ereignete und der Kutter auf dem Weg nach Italien war, erklärte sich das dreiköpfige Gremium für nicht zuständig. Es folgte damit der Argumentation der Verteidigung. Auch die Vorwürfe der Schlepperei und illegalen Einreise wurden fallen gelassen. Damit bestätigte das Gericht die Position der Verteidigung: Die neun Überlebenden sind unschuldig, ihre monatelange Untersuchungshaft war unbegründet und rechtswidrig.

Nach über elf Monaten unbegründeter und rechtswidriger Haft kamen die Pylos9 jedoch nicht frei. Ein 20-jähriger, dessen Asylantrag bereits zweimal abgelehnt wurde, ist in das Abschiebezentrum Petrou Ralli bei Athen verlegt worden und von einer Deportation nach Ägypten bedroht. Die übrigen acht befinden sich in Nafplio in Polizeigewahrsam und sollen in ein Abschiebezentrum überstellt werden – mit der unbegründeten Annahme, sie könnten fliehen.

Hier gehts zur Pressekonferenz vom 19.06.2025 betreffend den weiteren Verfahren zur Verantwortung der griechischen Küstenwache.

Unterstützung durch den PBLF

Beitrag an die Löhne und Spesen des Teams von iCase KOINSEP sowie für die Arbeit einer Anwältin von HRLP, die das Verteidigungsteam mit juristischem Fachwissen unterstützte, insbesondere bei der Vorbereitung des Arguments zur Unzuständigkeit der griechischen Behörden (siehe auch die von HRLP verfasste rechtliche Analyse zur Unzuständigkeit) und betreffend das Argument zur Ausnahmeregelung von Asylsuchenden von der Kriminalisierung.

Türkei: Verfahren gegen Anwalt Bedirhan Sarsılmaz

  • Titel: Türkei: Verfahren gegen Anwalt Bedirhan Sarsılmaz
  • Untertitel Aktuell: «There is nothing of substance in the case file»

«There is nothing of substance in the case file»

hier finden Sie den Prozessbeobachtungsgericht als pdf

Am 6. Mai 2025 fand in Istanbul die erste und zugleich letzte Anhörung im Prozess gegen den Anwalt Bedirhan Sarsılmaz statt, der Mitglied des Vereins Özgürlük için Hukukçular Derneği (ÖHD) – der «Vereinigung der Anwält*innen für Freiheit» – ist. Er war am 28. Oktober 2024 im Gerichtssaal des Çağlayan-Gerichtsgebäudes verhaftet worden, während er dort als Verteidiger in einem anderen Verfahren tätig war. Erst nach fast vier Monaten Untersuchungshaft wurde er am 20. Februar 2025 freigelassen.

Eine Delegation von Prozessbeobachter*innen der Demokratischen Jurist*innen Schweiz (DJS) und der European Association of Lawyers for Democracy & World Human Rights (ELDH) sowie ca. 50 Anwält*innen aus der Türkei waren am 6. Mai in Istanbul vor Ort und waren an der Anhörung präsent.

PHOTO

 

Übernahme und Umsetzung der Rechtsgrundlagen zum EU-Migrations- und Asylpakt (Weiterentwicklungen des Schengen-/Dublin-Besitzstand

  • Datum: 14-11-2024 00:00
  • Titel: Übernahme und Umsetzung der Rechtsgrundlagen zum EU-Migrations- und Asylpakt (Weiterentwicklungen des Schengen-/Dublin-Besitzstand

hier finden Sie die eingereichte Vernehmlassung als pdf

Übernahme und Umsetzung der Rechtsgrundlagen zum EU-Migrations- und Asylpakt (Weiterentwicklungen des Schengen-/Dublin-Besitzstands)

Stellungnahme des «Bündnis unabhängiger Rechtsarbeit im Asylbereich» zur Vernehmlassung 2024/46

Zusammen mit weiteren Organisationen aus dem «Bündnis unabhängiger Rechtsarbeit im Asylbereich» hat die DJS eine umfangreiche Vernehmlassungsantwort zur Übernahme und Umsetzung der Rechtsgrundlagen zum EU-Migrations- und Asylpakt ausgearbeitet (Vernehmlassung 2024/46). Aufgrund der massiven Verschärfungen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) und der damit einhergehenden Aushöhlung des Asylrechts lehnt das Bündnis den EU-Asylpakt vollumfänglich ab. 

Das «Bündnis unabhängiger Rechtsarbeit im Asylbereich» ist ein Zusammenschluss verschiedener Beratungsstellen, Organisationen, Anwält*innen und engagierter Einzelpersonen, die Rechtsarbeit im Asylbereich leisten. Wir arbeiten sowohl im beschleunigten wie im erweiterten Verfahren ausserhalb des staatlichen Rechtsschutzes. Tatsächlich haben die letzten fünf Jahre gezeigt, dass zwar punktuelle Verbesserungen im Vergleich zum alten, oft sehr lange dauernden Asylverfahren erzielt werden konnten. Das Asylverfahren und der Rechtsschutz leiden aber nach wie vor an systemischen Mängeln und werden den rechtsstaatlichen Vorgaben nicht gerecht. Es zeigt sich immer mehr, dass die Schutzsuchenden, um Zugang zum Asylverfahren zu erhalten, mit immer grösseren Hürden konfrontiert werden. Dieser heute schon prekäre Zustand wird durch die Übernahme des EU-Asylpaktes verschärft. Das Bündnis lehnt daher die Übernahme der EU-Regelungen ab, die den Zugang zum Recht auf Asyl zusätzlich massiv einschränken werden.

hier finden Sie die eingereichte Vernehmlassung als pdf

hier finden Sie unsere Medienmitteilung

Unabhängige NGOs lehnen Schweizer Beteiligung am dysfunktionalen und menschenverachtenden EU-Asylpakt ab

  • Datum: 14-11-2024 00:00
  • Titel: Unabhängige NGOs lehnen Schweizer Beteiligung am dysfunktionalen und menschenverachtenden EU-Asylpakt ab

Das Bündnis unabhängiger Rechtsarbeit im Asylbereich hat heute seine Vernehmlassungsantwort zur Schweizer Übernahme des EU-Migrations- und Asylpaktes eingereicht. Aufgrund der massiven Verschärfungen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) und der damit einhergehenden Aushöhlung des Asylrechts lehnt das Bündnis den EU-Asylpakt vollumfänglich ab.

«Die EU-Asylreform ist ein Kniefall vor den rechten und rechtsextremen
Kräften in Europa und basiert auf dem Irrglauben, Migration lasse sich durch Entrechtung und Gewalt tatsächlich aufhalten. Dabei löst die Reform die derzeitigen Probleme im Asyl- und Migrationsbereich nicht, sondern verstärkt sie sogar: Die Staaten an der EU-Aussengrenze werden im Stich gelassen, Asylsuchende werden sanktioniert und interniert und der neue  «Solidaritätsmechanismus» ist nur ein lückenhafter Ablasshandel.» So Simon Noori, Co-Geschäftsleiter von Solidarité sans frontières und Co-Autor der Vernehmlassungsantwort.

Lara Hoeft, Juristin, Co-Geschäftsleiterin von Pikett Asyl und ebenfalls Co-Autorin der Vernehmlassungsantwort hebt hervor: «Weiterentwicklungen im Sinne von Geflüchteten oder  Normen zum Schutz von asylsuchenden Personen sind in der Reform kaum zu finden. Die EU hat es versäumt, das dysfunktionale Dublin-System zu überwinden und eine progressive Migrationspolitik zu etablieren. Menschenwürde und Solidarität mit Geflüchteten, Grund- und Menschenrechte sowie der Zugang zum Recht auf Asyl werden ebenso wenig verteidigt, wie legale Migrations- und
Fluchtwege geschaffen werden.»

Die Schweiz muss nur die Teile des Paktes übernehmen, die eine Weiterentwicklung des Schengen-/Dublin-Besitzstands darstellen. Sie beteiligt sich jedoch mittelbar an den  menschenrechtlich problematischen Verfahren an den EU-Aussengrenzen und profitiert von der europäischen Abschottung, ohne selbst Verantwortung zu übernehmen. Aber auch in der Schweiz wird es zu einschneidenden Verschärfungen für flüchtende Menschen kommen:

  • Der Dublin-Mechanismus wird als Grundprinzip beibehalten und im Detail weiter verschärft.
    Durch die Verlängerung der Dublin-Überstellungsfristen werden flüchtende Menschen noch länger in einer prekären rechtlichen Grauzone gehalten und von Ausschaffungen bedroht sein.
  • Neu können Zwangsmassnahmen gegenüber Kindern ab sechs Jahren angewendet werden,
    z.B. um ihre Fingerabdrücke zu erfassen oder um sie in die vermeintlich zuständigen Mitgliedstaaten auszuschaffen.
  • Durch die neue Überprüfungsverordnung und die revidierte EURODAC-Verordnung wird es zu mehr Inhaftierungen und zu einer massenhaften Datenerfassung von Geflüchteten auch im Inland kommen. Das Risiko für Racial Profiling wird sich weiter erhöhen.
  • Anstatt die Flüchtenden ihre Zielstaaten wählen zu lassen, wie dies für Vertriebene aus der Ukraine ohne grössere Probleme funktionierte, ignoriert die GEAS-Reform die Interessen der Asylsuchenden. Angesichts der sehr unterschiedlichen Lebens- und Schutzbedingungen in den verschiedenen Mitgliedstaaten wird dies nicht zu einer Verringerung der Sekundärmigration innerhalb Europas führen. Stattdessen wird sich die Situation von Asylsuchenden aufgrund neuer Sanktionen weiter verschlimmern.

Mit der Reform stirbt die Hoffnung auf eine solidarische europäische Asylpolitik. Das Bündnis unabhängiger Rechtsarbeit im Asylbereich lehnt daher die Übernahme des EU-Asylpaktes und die damit einhergehenden menschenverachtenden Verschärfungen auch im Schweizer Asylsystem ab.

Sollte die Übernahme der Reform nicht verhindert werden können, fordert das Bündnis von der Schweiz, dass die bereits jetzt äusserst prekären Lebensbedingungen von Asylsuchenden nicht noch weiter verschlechtert werden. Stattdessen sollten die wenigen Spielräume, die die Reform bietet, zugunsten der Geflüchteten genutzt werden:

  • Die Schweiz soll die Haftbedingungen, den Rechtsschutz, die Unterbringung sowie die
    Rechtsposition migrierter Personen verbessern und den Familienbegriff erweitern.
  • Die Schweiz soll das Schutz- und Lebensniveau von Asylsuchenden und Geflüchteten an europäische Standards angleichen. Es kann nicht sein, dass sich die Schweiz lediglich an den Teilen der Reform beteiligt, die extrem nachteilig für die betroffenen Menschen sind, die europäischen Schutzvorschriften jedoch nicht beachtet.
  • Die Schweiz soll die Rechtsposition vorläufig Aufgenommener an jene des subsidiären
    Schutzes der EU angleichen.
  • Die Schweiz soll sich verpflichtend am europäischen Solidaritätsmechanismus beteiligen,
    und zwar verbindlich durch Übernahmen von Schutzsuchenden.
  • Die Schweiz soll sich zum Kindesschutz bekennen und auf Überstellungen und Zwangsmassnahmen gegenüber Minderjährigen verzichten.
  • Die Schweiz sollte einen konsequenten, unentgeltlichen Rechtsschutz im Screening-, Asyl und Wegweisungsverfahren sicherstellen.

In der Vernehmlassungsantwort wird detailliert auf die einzelnen Rechtsakte des Paktes und
auf ihre Bedeutung für die Schweiz eingegangen. Dabei werden verschiedene Forderungen gestellt, die indes stets zweitrangig hinter derjenigen der Ablehnung des Paktes als Ganzes
stehen.

Die Medienmitteilung als PDF finden Sie hier.

Universitäten müssen als Orte des öffentlichen Diskurses friedliche Proteste schützen

  • Datum: 15-05-2024 00:00
  • Titel: Universitäten müssen als Orte des öffentlichen Diskurses friedliche Proteste schützen
  • Haupttext:

    Am 1. März 2024 hat das Staatssekretariat für Migration (SEM) die Beratung und Rechtsvertretung in den Bundesasylzentren (BAZ) für die Periode 2025 bis 2029 neu ausgeschrieben. Bis am 30. April 2024 können sich interessierte Organisationen und Unternehmen für die Aufgabe bewerben.

    Basierend auf den Erfahrungen aus der ersten Umsetzungsperiode des revidierten Asylverfahrens verfasste das «Bündnis unabhängiger Rechtsarbeit im Asylbereich», dem die demokratischen Jurist*innen Schweiz seit Beginn angehören, verschiedene Empfehlungen zuhanden des SEM. Diese adressieren einerseits das Pflichtenheft und die Leistungsvereinbarung mit den mandatierten Stellen, andererseits aber insbesondere die Verfahrensleitung durch das SEM. Sie sollten nicht nur bei der Auftragsvergabe zu Rate gezogen, sondern auch in der laufenden Umsetzung des Asylverfahrens beachtet werden.

    Hier gehts zu den Empfehlungen

Die Leitung der Universität liess die friedlichen Besetzungen der Universität Genf gestern und der Universität Bern heute Morgen von der Polizei räumen. Die Räumung des friedlichen Protests der Universität Basel steht kurz bevor. Die demokratischen Jurist*innen waren in Bern mit einem Beobachtungsteam vor Ort. Auch in Basel werden wir die mögliche Räumung beobachten.

Wir möchten in diesem Zusammenhang betonen, dass das Zusammenkommen von Menschen auf privatem oder öffentlichem Grund mit dem Zweck, untereinander oder gegen aussen Meinungen mitzuteilen, zu diskutieren oder ihnen symbolischen Ausdruck zu geben, grundrechtlich geschützt sind.

Die Besetzung der Universitäten im Zusammenhang mit dem Gaza-Konflikt stellen politische Versammlungen mit einem Appellcharakter dar und sind durch das Recht auf freie Meinungsäusserungs- und Versammlungsfreiheit geschützt.

Laut Rechtsprechung ist vor jeder Räumung einer Hausbesetzung eine Interessenabwägung vornzunehmen. Der Europäische Gerichtshof für Meinschenrechte verlangt eine «fair balance» zwischen den Interessen der Eigentümer und den entgegenstehenden privaten und öffentlichen Interessen.

Für uns als Demokratische Jurist*innen ist die Universität ein besonders geschützter Raum, durch den ein freier Diskurs – als Voraussetzung für neue Erkenntnis – erst ermöglicht wird.

Dies gilt umso mehr als eine Universität nicht um irgendeine private Eigentümerin handelt, die ihr Hausrecht beliebig durchsetzen kann.

Studierende und Mitarbeitende der Universitäten sind nicht stille Konsument*innen von Bildungsangeboten, sondern essenzieller Bestandteil des Austauschs, der Prüfung und Festigung von Wissen. Dieser Austausch benötigt einen offenen Raum für Dissens.

Als öffentliche Institution in Form einer öffentlich-rechtlichen Anstalt ist die Universität im besonderen Mass gehalten, die Grundrechte der Protestierenden zu wahren.

 

 

Vor Gericht wegen Beschwerde gegen einen Polizeieinsatz

  • Datum: 22-09-2020 00:00
  • Titel: Vor Gericht wegen Beschwerde gegen einen Polizeieinsatz
  • Haupttext:
    Am 3. März 2016 nahm die Kantonspolizei mehrere Asylsuchende fest, die in der Matthäuskirche Schutz vor ihrer Ausschaffung nach Italien gesucht haben. Am Abend desselben Tages versammelten sich etwa dreihundert Personen zu einer spontanen Protestkundgebung. Die Polizei setzte mehrmals Gummischrot gegen die Demonstrierenden ein. Mehrere Basler*innen beantragten die Untersuchung des gefährlichen Polizeieinsatzes und machten Aussagen gegenüber der Staatsanwaltschaft. Während das Verfahren gegen die Polizei eingestellt wurde, benutzte die Staatsanwaltschaft die Aussagen der Antragssteller*innen, um gegen sie Strafbefehle wegen Landfriedensbruch zu erlassen. Die Fälle kommen am 24. und 25. September 2020 in Basel vor Gericht. Sie stehen exemplarisch für ein systemisches Problem in der Schweiz: Die aktuellen Strukturen verunmöglichen eine unabhängige Untersuchung von polizeilichem Fehlverhalten und geben den möglichen Opfern kaum Chancen auf ein faires Verfahren.

    Mehrere Hundert Personen versammelten sich am 3. März 2016 Uhr an der Matthäuskirche in Basel zu einer Kundgebung. Sie protestierten gegen die Festnahme von Asylsuchenden, die in der besetzten Kirche Schutz vor ihrer Ausschaffung nach Italien im Dublin-Verfahren gesucht hatten. Es kam zu einem Polizeieinsatz, bei dem die Polizei mit Gummischrot in den Demonstrationszug schoss. Bei der Ombudsstelle Basel-Stadt und beim Justiz- und Sicherheitsdepartement Basel-Stadt (JSD) gingen in der Folge mehrere Anzeigen ein, die die Verhältnismässigkeit des Polizeieinsatzes in Frage stellten. Die Meldungen stammten unter anderem von Demonstrant*innen, die von Gummischrot im Gesicht getroffen wurden und nur mit Glück keine schweren Verletzungen erlitten.

    Die Staatsanwaltschaft lud im Winter 2016 die Antragsteller*innen als «Auskunftspersonen» im Verfahren gegen die Polizei vor. Die Antragsteller*innen machten daraufhin Aussagen über den Verlauf der Demonstration und den Mitteleinsatz der Polizei.

    Aus Auskunftspersonen in einer Strafuntersuchung gegen die Polizei werden Angeklagte
    Die Staatsanwaltschaft nutzte die Aussagen der «Auskunftspersonen» in der Strafuntersuchung gegen die Polizei daraufhin als Grundlage für den Erlass von Strafbefehlen wegen Landfriedensbruch und mehrfacher Störung von öffentlichen Betrieben. Die Betroffenen legten gegen die Strafbefehle Einsprache ein – der Fall kommt nun vor Gericht.

    «Dass die Staatsanwaltschaft die Aussagen aus dem Verfahren gegen Angehörige der Polizei gegen die ursprünglichen Antragstellenden verwendete, ist rechtsstaatlich bedenklich», sagt Christian von Wartburg, einer der involvierten Verteidiger*innen und Vorstandsmitglied der Demokratischen Jurist*innen Basel. Den Betroffenen wurde bei ihrer Befragung weder ein Delikt vorgehalten, noch wurden sie darauf hingewiesen, dass es aufgrund ihrer Aussagen zur Eröffnung eines Verfahrens gegen sie kommen könnte. Dem Strafgericht ging diese Vorgehensweise der Staatsanwaltschaft zu weit. Es hiess einen Antrag der Betroffenen gut, Aussagen, die sie im Verfahren gegen die Polizeiangehörigen gemacht hatten, in ihrem eigenen Verfahren nicht gegen sie zu verwenden.

    Keine rechtsstaatlich angemessenen Mittel gegen Polizeigewalt und Polizeiwillkür
    Dieser Fall ist ein gutes Beispiel dafür, was Menschenrechtsorganisationen und internationale Gremien schon lange kritisieren: Bei Untersuchungen von polizeilichem Fehlverhalten sitzen die Betroffenen am kürzeren Hebel. Die operationelle Nähe von Staatsanwaltschaft und Polizei ist ein systemisches Problem in der Schweiz, das unabhängige Untersuchungen erheblich erschwert oder gar verunmöglicht.

    Die Schweiz sieht sich seit 2002 von diversen internationalen Gremien regelmässig mit der Forderung konfrontiert, Massnahmen einzuführen, welche die unabhängige Untersuchung von polizeilichem Fehlverhalten sicherstellen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen. So geschehen 2017 im Rahmen der allgemeinen periodischen Überprüfung der Schweiz vor dem UNO-Menschenrechtsrat1. Die Schweiz hat es trotz anhaltender Kritik verpasst, unabhängige Untersuchungs- und Strafverfolgungsinstanzen bei polizeilichen Angelegenheiten zu schaffen, an die sich alle Bürger*innen wenden können ohne Repressalien zu befürchten – auch Polizist*innen, die Fehlverhalten ihrer Kolleg*innen zur Anzeige bringen wollen.

    «Es geht nicht nur um Demonstrierende, die ihr Grundrecht auf Meinungsäusserung wahrnehmen. Es geht auch um alltägliche Situationen mit der Polizei wie etwa Personen- oder Verkehrskontrollen, die aus dem Ruder laufen. Wir müssen uns fragen: Wer schaut der Polizei auf die Finger und wie gehen wir als Gesellschaft mit möglichem polizeilichem Fehlverhalten um?», betont von Wartburg.

    Die Demokratischen Jurist*innen Basel fordern die Schaffung einer unabhängigen Beschwerdestelle zur Untersuchung von Polizeieinsätzen. Es muss möglich sein, Aussagen im Rahmen einer Untersuchung von polizeilichen Einsätzen zu machen, ohne dass die Aussagen anschliessend als Grundlage für ein Strafverfahren gegen die Anzeigesteller*innen verwendet werden. Ansonsten ist zu befürchten, dass kaum eine Person dazu bereit ist, die Untersuchung von polizeilichen Einsätzen einzufordern und der Einsatz unverhältnismässiger Gewalt durch die Polizei straflos bleibt.

    Der Prozess beginnt am Donnerstag 24. September 2020 um 08.15 Uhr am Basler Strafgericht Für die Verhandlung sind zwei Tage angesetzt.

Am 3. März 2016 nahm die Kantonspolizei mehrere Asylsuchende fest, die in der Matthäuskirche Schutz vor ihrer Ausschaffung nach Italien gesucht haben. Am Abend desselben Tages versammelten sich etwa dreihundert Personen zu einer spontanen Protestkundgebung. Die Polizei setzte mehrmals Gummischrot gegen die Demonstrierenden ein. Mehrere Basler*innen beantragten die Untersuchung des gefährlichen Polizeieinsatzes und machten Aussagen gegenüber der Staatsanwaltschaft. Während das Verfahren gegen die Polizei eingestellt wurde, benutzte die Staatsanwaltschaft die Aussagen der Antragssteller*innen, um gegen sie Strafbefehle wegen Landfriedensbruch zu erlassen. Die Fälle kommen am 24. und 25. September 2020 in Basel vor Gericht. Sie stehen exemplarisch für ein systemisches Problem in der Schweiz: Die aktuellen Strukturen verunmöglichen eine unabhängige Untersuchung von polizeilichem Fehlverhalten und geben den möglichen Opfern kaum Chancen auf ein faires Verfahren.

Mehrere Hundert Personen versammelten sich am 3. März 2016 Uhr an der Matthäuskirche in Basel zu einer Kundgebung. Sie protestierten gegen die Festnahme von Asylsuchenden, die in der besetzten Kirche Schutz vor ihrer Ausschaffung nach Italien im Dublin-Verfahren gesucht hatten. Es kam zu einem Polizeieinsatz, bei dem die Polizei mit Gummischrot in den Demonstrationszug schoss. Bei der Ombudsstelle Basel-Stadt und beim Justiz- und Sicherheitsdepartement Basel-Stadt (JSD) gingen in der Folge mehrere Anzeigen ein, die die Verhältnismässigkeit des Polizeieinsatzes in Frage stellten. Die Meldungen stammten unter anderem von Demonstrant*innen, die von Gummischrot im Gesicht getroffen wurden und nur mit Glück keine schweren Verletzungen erlitten.
Die Staatsanwaltschaft lud im Winter 2016 die Antragsteller*innen als «Auskunftspersonen» im Verfahren gegen die Polizei vor. Die Antragsteller*innen machten daraufhin Aussagen über den Verlauf der Demonstration und den Mitteleinsatz der Polizei.
Aus Auskunftspersonen in einer Strafuntersuchung gegen die Polizei werden Angeklagte
Die Staatsanwaltschaft nutzte die Aussagen der «Auskunftspersonen» in der Strafuntersuchung gegen die Polizei daraufhin als Grundlage für den Erlass von Strafbefehlen wegen Landfriedensbruch und mehrfacher Störung von öffentlichen Betrieben. Die Betroffenen legten gegen die Strafbefehle Einsprache ein – der Fall kommt nun vor Gericht.«Dass die Staatsanwaltschaft die Aussagen aus dem Verfahren gegen Angehörige der Polizei gegen die ursprünglichen Antragstellenden verwendete, ist rechtsstaatlich bedenklich», sagt Christian von Wartburg, einer der involvierten Verteidiger*innen und Vorstandsmitglied der Demokratischen Jurist*innen Basel. Den Betroffenen wurde bei ihrer Befragung weder ein Delikt vorgehalten, noch wurden sie darauf hingewiesen, dass es aufgrund ihrer Aussagen zur Eröffnung eines Verfahrens gegen sie kommen könnte. Dem Strafgericht ging diese Vorgehensweise der Staatsanwaltschaft zu weit. Es hiess einen Antrag der Betroffenen gut, Aussagen, die sie im Verfahren gegen die Polizeiangehörigen gemacht hatten, in ihrem eigenen Verfahren nicht gegen sie zu verwenden.

Keine rechtsstaatlich angemessenen Mittel gegen Polizeigewalt und Polizeiwillkür
Dieser Fall ist ein gutes Beispiel dafür, was Menschenrechtsorganisationen und internationale Gremien schon lange kritisieren: Bei Untersuchungen von polizeilichem Fehlverhalten sitzen die Betroffenen am kürzeren Hebel. Die operationelle Nähe von Staatsanwaltschaft und Polizei ist ein systemisches Problem in der Schweiz, das unabhängige Untersuchungen erheblich erschwert oder gar verunmöglicht.Die Schweiz sieht sich seit 2002 von diversen internationalen Gremien regelmässig mit der Forderung konfrontiert, Massnahmen einzuführen, welche die unabhängige Untersuchung von polizeilichem Fehlverhalten sicherstellen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen. So geschehen 2017 im Rahmen der allgemeinen periodischen Überprüfung der Schweiz vor dem UNO-Menschenrechtsrat1. Die Schweiz hat es trotz anhaltender Kritik verpasst, unabhängige Untersuchungs- und Strafverfolgungsinstanzen bei polizeilichen Angelegenheiten zu schaffen, an die sich alle Bürger*innen wenden können ohne Repressalien zu befürchten – auch Polizist*innen, die Fehlverhalten ihrer Kolleg*innen zur Anzeige bringen wollen.«Es geht nicht nur um Demonstrierende, die ihr Grundrecht auf Meinungsäusserung wahrnehmen. Es geht auch um alltägliche Situationen mit der Polizei wie etwa Personen- oder Verkehrskontrollen, die aus dem Ruder laufen. Wir müssen uns fragen: Wer schaut der Polizei auf die Finger und wie gehen wir als Gesellschaft mit möglichem polizeilichem Fehlverhalten um?», betont von Wartburg.

Die Demokratischen Jurist*innen Basel fordern die Schaffung einer unabhängigen Beschwerdestelle zur Untersuchung von Polizeieinsätzen. Es muss möglich sein, Aussagen im Rahmen einer Untersuchung von polizeilichen Einsätzen zu machen, ohne dass die Aussagen anschliessend als Grundlage für ein Strafverfahren gegen die Anzeigesteller*innen verwendet werden. Ansonsten ist zu befürchten, dass kaum eine Person dazu bereit ist, die Untersuchung von polizeilichen Einsätzen einzufordern und der Einsatz unverhältnismässiger Gewalt durch die Polizei straflos bleibt.

Der Prozess beginnt am Donnerstag 24. September 2020 um 08.15 Uhr am Basler Strafgericht Für die Verhandlung sind zwei Tage angesetzt.

Weiterentwicklung des Schengenbesitzstand sowie Änderungen des Ausländer- und Integrationsgesetzes

  • Datum: 17-10-2024 00:00
  • Titel: Weiterentwicklung des Schengenbesitzstand sowie Änderungen des Ausländer- und Integrationsgesetzes

hier finden Sie die eingereichte Vernehmlassung als pdf

Vernehmlassung 2024 / 45 Übernahme und Umsetzung der Verordnung (EU) 2024/1717 zur Änderung der Verordnung (EU) 2016/399 über einen Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengen-Weiterentwicklung) sowie Änderung des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG)

1. Einleitung

 

Zur Um die einheitliche Anwendung der Vorschriften an den Schengen-Aussen- und Binnengrenzen sicherzustellen, hat die Europäische Union (EU) den Schengener Grenzkodex angepasst. Einige Bestimmungen dieser Schengen-Weiterentwicklung bedürfen einer Umsetzung in das Schweizer Recht, damit sie in der Schweiz anwendbar sind.

Die erste Vorlage betrifft den Bundesbeschluss zur Übernahme und Umsetzung der Verordnung (EU) 2024/1717 zur Änderung der Verordnung (EU) 2016/399 über einen Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (SGK). Die zweite Vorlage betrifft eine Änderung des Ausländer- und Integrationsgesetzes vom 16. Dezember 2005 (AIG). Neu soll auch das eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) auf das nationale ETIAS-System Zugriff erhalten. In der dritten Vorlage werden einige redaktionelle Anpassungen im Bereich «Grenze» vorgenommen. Damit soll eine sprachliche Angleichung an die Terminologie des SGK erreicht werden.

Die Demokratischen Jurist*innen Schweiz fokussieren sich in der vorliegenden Vernehmlassungsantwort auf die für sie relevantesten Themen. Wenn zu einem Punkt keine Stellung bezogen wird, ist dies nicht als Zustimmung zu werten.

2. Das Wichtigste in Kürze

  • Die DJS lehnen den Entwurf des Bundesbeschlusses über die Genehmigung und Umsetzung des Notenaustausches zur Übernahme und Umsetzung der EU-Verordnung (Vorlage 1) sowie zwei Änderungen des AIG (Vorlage 2 und 3) des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements ab. Die DJS befürworten grundsätzlich die Übernahme und Umsetzung der EU-Verordnung, aber nicht zu jedem Preis. Die Schengen-Assoziierung der Schweiz sollte nicht aufs Spiel gesetzt werden, aber die Übernahme und Umsetzung der EU-Verordnung darf nicht zulasten der Menschenrechte fallen. Einschränkung der Grundrechte von Asylsuchenden werden deshalb abgelehnt.
  • Die DJS sprechen sich klar gegen die vorübergehende Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Schengen-Binnengrenzen der Schweiz aus. Die DJS fordern, dass an der Schweizer Grenze der Zugang zum Asylverfahren jederzeit gewährleistet sein muss. Bestehen Zweifel, ob ein Asylgesuch vorliegt, muss die betroffene Person einem Asylverfahren zugeführt werden.
  • Es gilt die einzelnen Gesetzesänderung zu präzisieren und sicher zu stellen, dass die Grundrechte auf Privatsphäre aller Personen, auch Drittstaatsangehörige, nicht unverhältnismässig und ungerechtfertigt eingeschränkt werden.
  • Es ist zwingend notwendig, dass Beschwerden gegen Wegweisungen an der Grenze und im grenznahen Raum aufschiebende Wirkung haben und dass die Beschwerdefrist verlängert wird. Ansonsten wird das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf ausgehöhlt.

3. Zugang zum Asylverfahren

Für die DJS steht die Einhaltung der Grundrechte von Asylsuchenden und Migrant*innen an erster Stelle. Sie weist darauf hin, dass jede Gesetzesänderung, die den Grenzübertritt regelt, die Menschenrechte respektieren und sicherstellen muss, dass Schutzsuchende weiterhin Zugang zum Asylverfahren haben.

Dieser Zugang zum Asylverfahren muss jederzeit und unabhängig von äusseren Faktoren gewährleistet sein. An der Grenze muss die Möglichkeit bestehen, ein Asylgesuch zu stellen. Wenn eine Person ein Asylgesuch stellen möchte – sowie im Zweifelsfall, wenn nicht klar ist, ob tatsächlich ein Asylgesuch vorliegt – muss sie an das Staatssekretariat für Migration (SEM) verwiesen und einem Asylverfahren zugeführt werden.

Die DJS fordert eine erhöhte Transparenz bei der Umsetzung des Grenzkodexes und die Sicherstellung, dass betroffene Personen über ihre Rechte und Pflichten umfassend und in einer ihr verständlichen Sprache informiert werden. Jede Person muss über ihr Recht informiert werden, ein Asylgesuch stellen zu können sowie über die Möglichkeit von Rechtsmitteln im Falle einer Wegweisung.

Aus Sicht der DJS könnte die Transparenz mittels öffentlich verfügbarer Statistiken, wie viele Personen kontrolliert wurden, wie viele Personen unter welchem Verfahren weggewiesen wurden und wie viele Personen einem Asylverfahren zugeführt wurden, erhöht werden. Dies soll auch fördern, dass sämtliche Kontrollen dokumentiert und nachvollziehbar sind. 

4. Rückweisungen im Binnengrenzgebiet und das neue Überstellungsverfahren

Mit dem neuen Art. 23a N-SGK wird ein überarbeitetes standardisiertes Überstellungsverfahren eingeführt, das sich auf die Behandlung von Personen bezieht, die im Binnengrenzgebiet aufgegriffen werden. Ausgenommen sind Personen, die im Besitz eines internationalen Schutzstatus sind oder einen solchen beantragen. Das in Art. 23a N-SGK festgelegte Verfahren lässt bestehende bilaterale Abkommen oder Vereinbarungen nach Art. 6 Abs. 3 der EU-Rückführungsrichtlinie (2008/115/EG) unberührt.

Die DJS weist darauf hin, dass Wegweisungen stets unter Berücksichtigung und Abklärung der Einhaltung der Menschenrechte durchgeführt werden müssen. Dies schliesst insbesondere die Prüfung der Situation nach einer Rückweisung im anderen Staat ein, um sicherzustellen, dass keine Verletzungen der Rechte der betroffenen Personen auftreten.

4.1 Konzept «Grenznaher Raum»

Durch die Erweiterung von Kontrollen auf das Gebiet des «grenznahen Raums» steigt aus Sicht der DJS das Risiko von willkürlichen und missbräuchlichen Kontrollen, da diese in einem weniger festgelegten Rahmen bzgl. Personenkreis (nicht alle kontrollierten Personen haben eine Grenze überschritten), Infrastruktur (mobile Kontrollen), Zuständigkeit (fehlende klare Erkennbarkeit des zuständigen Staates) und Erfassung (fragliche Sicherstellung der Nachvollziehbarkeit aller Kontrollen) stattfinden. Hinzu kommt, dass der sogenannte grenznahe Raum nicht klar definiert ist. Die DJS weisen deshalb darauf hin, dass Massnahmen im grenznahen Raum im Einklang mit den allgemeinen Prinzipien des Schengener Abkommens stehen müssen, insbesondere dem freien Personenverkehr und dem Schutz der Menschenrechte. Die DJS schlagen vor, dass auf Verordnungs- oder mindestens Weisungsstufe klar definiert wird, welches Gebiet in der Schweiz unter «grenznahen Raum» fällt. Dies soll der Rechtssicherheit sowohl innerhalb der Grenzschutzbehörde als auch extern gegenüber der kontrollierten Person dienen. Weiter fordern die DJS, dass im Standardformular für die Überstellung von in Binnengrenzgebieten aufgegriffenen Personen beim Ort der exakte Ort der Kontrolle angegeben wird.

4.2 Effektivität der Massnahmen im grenznahen Raum

Aus Sicht der DJS ist es fraglich, ob Massnahmen im grenznahen Raum effektiv und sinnvoll sind. Es ist nicht erwiesen, ob die erhöhten Kontrollen tatsächlich zur Verbesserung der Sicherheit beitragen oder ob sie lediglich eine Verschiebung von Problemen entlang der Grenzen verursachen. Die DJS regt an, die tatsächliche Wirksamkeit dieser Massnahmen regelmässig zu überprüfen.

4.3 Grenzüberschreitende Zusammenarbeit

Die Überwachung des grenznahen Raums unter Beteiligung der zuständigen Behörden beider Mitgliedstaaten (wie in Art. 23a Abs. 1 lit. a N-SGK vorgesehen) erfordert eine enge Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Schengen-Staaten. Unterschiede in der Auslegung und Umsetzung der Massnahmen könnten zu Ungleichheiten und Spannungen zwischen den Mitgliedsstaaten führen. Die DJS gibt zu bedenken, dass eine koordinierte und einheitliche Vorgehensweise notwendig ist, um diese Herausforderungen zu bewältigen und um sicherzustellen, dass mangelnde Koordination und Absprache in der Zusammenarbeit sich nicht zulasten der schutzsuchenden Personen auswirken.

4.4 Gefahr der Erleichterung von Rechtsverstössen

Die DJS teilt die Bedenken von NGOs wie PICUM (Platform for International Cooperation on Un-documented Migrants), welche bemängeln, dass durch die neuen Verfahren Kettenabschiebungen ohne ordnungsgemässe Verfahren oder individuelle Bewertungen erleichtert werden könnten.[1] Dies könnte beispielsweise Personen betreffen, die an Bahnhöfen oder in Städten nahe der Binnengrenzen aufgegriffen werden. PICUM weist darauf hin, dass automatische Haft und Überstellungen insbesondere bei Kindern von Gerichten als illegal angesehen wurden: «Effectively facilitating chain pushbacks without due process or individual assessment. […] This provision is very broad and can potentially include people apprehended at train or bus stations, and even in cities close to the internal borders. Such transfers would violate well-established jurisprudence by courts inItaly,Slovenia andAustria, which have all ruled against chain pushbacks between member states. Automatic detention and internal transfers will also apply to children, something that has beendeemed illegal by courts».

4.5 Kindeswohl

Da die Kinderrechtskonvention (KRK) bei allen Massnahmen beachtet werden muss, ist auch bei den Kontrollen und Überstellungen im grenznahen Raum das Kindeswohl gemäss Art. 3 KRK vorrangig zu beachten. Aus Sicht der DJS kann deshalb die Wegweisung nicht unmittelbar erfolgen, wie im dritten Abschnitt von Art. 23a Abs. 1 N-SGK suggeriert wird. In Art. 66 E-AIG wird denn auch festgehalten, dass für unbegleitete minderjährige Ausländer*innen unverzüglich eine Vertrauensperson bestimmt wird, die deren Interessen während des Wegweisungsverfahrens wahrnimmt. Die DJS fordern, dass in Fällen, in denen die Minderjährigkeit nicht klar feststeht, im Zweifel für die Minderjährigkeit entschieden wird und eine Vertrauensperson involviert wird. Die DJS weisen zudem darauf hin, dass eine umfassende Abklärung des Kindeswohls in der Mehrheit der Fälle nicht innerhalb von 24 Stunden getätigt werden kann. Für mutmasslich minderjährige Personen muss deshalb aus Sicht der DJS eine ordentliche Wegweisungsverfügung gemäss Art. 64 AIG erlassen werden (wie in Art. 64cbis E-AIG für alle Verfahren vorgesehen, die länger als 24 Stunden dauern).

4.6 Übersetzung

Überstellungsentscheidungen werden unter Verwendung des Standardformulars in Anhang XII Teil B des N-SGK erlassen. Dieses Formular soll mit personenbezogenen Daten der aufgegriffenen Person ausgefüllt werden und von dieser unterschrieben werden. Dazu muss das Formular für die betroffene Person verständlich sein. Die DJS fordern, dass dieses Formular in einer der aufgegriffenen Person verständlichen Sprache abgegeben wird.

Die DJS fordert zudem, dass Wegweisungsverfügungen nicht nur auf Verlangen übersetzt werden, da sich betroffene Personen dieser Möglichkeit oftmals nicht bewusst sind und ohne Übersetzung auch keine Kenntnis der ihnen zustehenden Rechtsmittel haben.

 

Vorschlag:

Art. 64f Übersetzung der Wegweisungsverfügung

1 Die zuständige Behörde stellt sicher, dass die Wegweisungsverfügung auf Verlangen schriftlich oder mündlich in eine Sprache übersetzt wird, die von der betroffenen Person verstanden wird oder von der ausgegangen werden kann, dass sie sie versteht.

2Die zuständige Behörde stellt sicher, dass die Wegweisungsverfügung, die Wird die Wegweisungsverfügung mittels Standardformular nach Artikel 64boder 64cbis Absatz 3 eröffnet wird, schriftlich oder mündlich in eine Sprache übersetzt wird, die von der betroffenen Person verstanden wird oder von der ausgegangen werden kann, dass sie sie versteht.so erfolgt keine Übersetzung. Den betroffenen Personen ist zudem ein Informationsblatt mit Erläuterungen zur Wegweisungsverfügung abzugeben.

 

4.7 Rechtsmittel

4.7.1 Information

Den betreffenden Drittstaatsangehörigen müssen in einer ihnen verständlichen Sprache schriftliche Angaben zu Kontaktstellen gemacht werden, die sie über eine rechtliche Vertretung, die entsprechend dem nationalen Recht in ihrem Namen handeln kann, unterrichten können (Art. 23a Abs. 3 N-SGK).

Die DJS schlagen vor, dass diese schriftlich abzugebende Information zwecks Transparenz öffentlich zugänglich gemacht wird. Des Weiteren regt sie an, die Wirksamkeit dieser Massnahme zum Rechtsschutz der betroffenen Personen regelmässig zu überprüfen. Die DJS  gibt in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass es sich um eine Wegweisung in ein anderes Land handelt, dessen rechtliche Vertretungen sich im hiesigen nationalen Recht, nach dem ein entsprechendes Rechtsmittel ergriffen werden müsste, nicht auskennen. Sollte die Vernetzung mit nationalen Rechtsschutzakteuren erfolgen, so gilt es zu bedenken, dass der Zugang aufgrund der unmittelbaren Wegweisung erschwert und die Wirksamkeit deshalb ebenfalls fraglich ist. Die DJS fordern zur Sicherstellung der Wirksamkeit dieser Massnahme die Offenlegung der angegebenen Kontaktstellen.

4.7.2 Aufschiebende Wirkung

Art. 23a Abs. 3 N-SGK sieht keine aufschiebende Wirkung für Rechtsmittel vor. Die DJS kritisiert dies.

Nach Erfahrung der DJS ist ein Rechtsmittel ohne aufschiebende Wirkung im Zusammenhang mit den Schweizer Binnengrenzen ohne effektive Wirkung. Es ist in der Praxis kaum möglich, den Kontakt zu einer Person, die bereits weggewiesen wurde, ohne eine Korrespondenzadresse hinterlassen zu können (weil eine solche im Moment der Wegweisung noch nicht bekannt ist), aufrechtzuerhalten. Das bedeutet, dass diese Beschwerden nicht weitergeführt werden können. In der Praxis ist der Rechtsbehelf nur effektiv, wenn er eine aufschiebende Wirkung hat. Das vorgeschlagene Verfahren ist entsprechend wirkungslos und die Wegweisung kaum je tatsächlich überprüfbar.

Ebenfalls fordern die DJS, dass Art. 64c bis Abs. 5 AIG ergänzt wird, damit Personen die gemäss Artikel 64c bis AIG weggewiesen werden nicht kurzfristig festgehalten werden können, gleich wie es gemäss Artikel 64c AIG der Fall ist. Eine Festhaltung von 24 Stunden ist unverhältnismässig.

Zudem ist die in Art. 64c bis Abs. 4 AIG ausgelegte Beschwerdefrist von fünf Arbeitstagen zu kurzgehalten. Eine derart kurze Frist lässt kaum Zeit für die Suche nach einer Rechtsvertretung. Die Beschwerdefrist soll auf mindestens 10 Tage erhöht werden.

Das in Art. 23a N-SGK skizzierte Verfahren ist deshalb aus Sicht der DJS mit dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gem. Art. 2 Absatz 3 des UNO-Pakts über bürgerliche und politische Rechte, Art. 6 EMRK, Art. 47 der EU-Grundrechtecharta und Art. 29a der Schweizer Bundesverfassung nicht vereinbar. Die DJS fordert eine Regelung, die mit dem internationalen Recht vereinbar ist um Menschenrechtsverstösse zu verhindern.

 

Vorschlag:

Art. 64cbis, Abs. 4 AIG

Eine Beschwerde gegen Verfügungen nach Absatz 1 ist innerhalb von fünf zehn Arbeitstagen nach deren Eröffnung einzureichen. Die Beschwerde hat keine aufschiebende Wirkung. Die Beschwerdeinstanz entscheidet innerhalb von zehn Tagen über deren Wiederherstellung. Die Beschwerde hat aufschiebende Wirkung. Das Gericht entscheidet innerhalb von fünf Arbeitstagen, ob die aufschiebende Wirkung aufrechterhalten wird.

 

4.8 Rechtswidrigkeit von formlosen Wegweisungen

Personen, die kein Asylgesuch stellen, müssen in jedem Fall eine Wegweisungsverfügung erhalten. Die kantonalen Behörden sind für die Wegweisung zuständig, können diese Kompetenz jedoch an das Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit (BAZG) delegieren (vgl. Art. 31 Abs. 4 Verordnung über die Einreise und die Visumerteilung, SR 142.204). Auf unverzügliches Verlangen der betroffenen Person wird eine Verfügung gemäss Art. 64c Abs. 1 AIG mit einem Standardformular erlassen. Die DJS fordern, dass betroffene Personen über dieses ihnen zustehende Recht in einer ihnen verständlichen Sprache informiert werden müssen, da keine Kenntnisse ihrer Rechtslage vorausgesetzt werden können. Kann in Ausnahmefällen keine Übersetzung sichergestellt werden, soll eine anfechtbare Verfügung mittels Standardformular erlassen werden.

Die EU-Rückführungsrichtlinie ist ebenfalls für die Schweiz verpflichtend (Schengener-Besitzstand). Diese Richtlinie verlangt, dass Drittstaatsangehörige an Binnengrenzen nicht direkt zurückgewiesen werden dürfen, selbst wenn sie kein Asylgesuch stellen.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat 2023 im Fall C-143/22 klargestellt, dass Rückführungen ohne eine individuelle Prüfung und ohne die Möglichkeit, ein Asylgesuch zu stellen, gegen EU-Recht und gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verstossen. Das Urteil des EuGH im Fall C-143/22 bestätigt, dass bei einer Einreiseverweigerung nicht sofort eine Wegweisung in den Nachbarstaat erfolgen darf. Stattdessen muss eine Rückkehrentscheidung erlassen werden, die auch gerichtlich angefochten werden kann. Diese Entscheidung muss schriftlich und begründet erfolgen, und es muss die Möglichkeit zur freiwilligen Ausreise eingeräumt werden.

Die Rückweisung an der Binnengrenze sollte in der Regel mittels Standardformular (Art. 64c Abs. 1 AIG mit Verweis auf die Ausführungen im ersten Abschnitt dieses Kapitels und Art. 64cbis E-AIG) erfolgen, welches eine Begründung enthalten muss. Diese Begründung sollte in einem klaren Kommentarfeld angegeben werden, in dem die Behörden erläutern, warum der Drittstaatsangehörige kein Recht auf Aufenthalt im Zielstaat hat. Die DJS fordert, dass bei der Begründung spezifisch ausgeführt wird, wenn kein Asylgesuch beantragt worden ist und dies der betroffenen Personen in einer ihr verständlichen Sprache übersetzt wird. Damit soll ausgeschlossen werden, dass Asylgesuche aufgrund von Verständigungsschwierigkeiten nicht als solche erkannt werden. Aus Sicht der DJS ist dies unerlässlich, um rechtswidrige Wegweisungen zu verhindern.

4.9 Training und Richtlinien für Grenzbehörden

Die DJS betonen, dass Grenzbehörden angemessen geschult werden müssen, um die Rechte von geflüchteten Personen sowie die ihnen unter Umständen zustehenden besonderen Rechte zu kennen und zu respektieren. Klare Richtlinien sollten entwickelt werden, um sicherzustellen, dass Personenkontrollen und Wegweisungen rechtskonform durchgeführt werden und Racial-Profiling aktiv verhindert wird.

5. Binnengrenzkontrollen

Die grundsätzliche Abschaffung von Binnengrenzkontrollen im Schengen-Raum stützt sich auf eine dreifache primärrechtliche Grundlage. Sie ist, erstens, verfassungsrechtliche Zielbestimmung in Art. 3 Abs. 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) und ein wesentliches Strukturprinzip der EU. Zweitens, ist sie zentraler Bestandteil der unionsbürgerlichen Freizügigkeit und als solche grundrechtlich verankert. Sie ist, drittens, integraler Bestandteil des Binnenmarkts und damit eines der grundlegendsten Ziel der Europäischen Union überhaupt.[2]

Der SGK sieht bereits heute die Möglichkeit der einseitigen temporären Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen durch die Schengen-Staaten vor. Das Verfahren zur Einführung von Binnengrenzkontrollen im Falle von aussergewöhnlichen Umständen soll weiterhin bestehen bleiben.

Die DJS weisen an dieser Stelle auf Art. 22 SGK hin, welcher die Grundidee des Schengenraums statuiert: «Binnengrenzen dürfen unabhängig der Staatsangehörigkeit der betreffenden Person an jeder Stelle ohne Grenzkontrollen überschritten werden.» Binnengrenzkontrollen laufen der Idee des Schengenraumes grundsätzlich zuwider. Die Möglichkeit den Gesamtzeitraum von maximal zwei Jahren (Art. 25a Abs. 5 SKG) in bestimmten Situationen sogar noch zwei weitere Male auf insgesamt drei Jahre verlängern zu können (Art. 25a Abs. 6 SKG) hebelt den Grundgedanken des Schengenraums vollständig aus. Die DJS kritisiert dies auch deshalb, weil EU-Mitgliedstaaten bereits jetzt die geltenden Maximaldauern von Binnengrenzkontrollen regelmässig überschreiten.

Der Schwerpunkt bei den Binnegrenzkontrollen liegt auf einem verschärften Fokus auf Migrationskontrolle und führt zu einer «Versicherheitlichung» von Migration indem sie Migration als Sicherheitsbedrohung begreift und diese direkt an den Schengen-Binnengrenzen bekämpft, wobei noch hinzukommt, dass die tatsächliche Wirkung vieler Massnahmen zweifelhaft ist. Wichtig ist hierbei hervorzuheben, dass von den Kontrollen nicht nur (schutzsuchende) Drittstaatsangehörige betroffen sein werden, sondern alle sich in der Schweiz aufhaltenden Personen, was mit zunehmender Überwachung, Racial Profiling und negativen wirtschaftlichen Auswirkungen miteinhergeht.[3]

Dabei darf das Verhältnismässigkeitsprinzip nicht missachtet werden. Binnengrenzkontrollen sind das allerletzte Mittel deren Zweck und Eignung klar abgewogen werden muss. Das heisst, dass immer eine Risikobewertung gemacht werden muss und nicht nur, wie in Art. 26 Abs. 2 N-SGK vorgesehen, bei einer Verlängerung. Diese muss zudem zwingend öffentlich verfügbar zu machen.

Zudem sollte die Kompetenz über die vorübergehende Wiedereinführung von Grenzkontrollen nur beim Bundesrat liegen und nicht auf kantonaler Ebene oder durch das EJPD entschieden werden. Die DJS fordern, dass Grenzkontrollen einheitlich durchgeführt werden und sich nicht kantonal unterscheiden. Grenzkontrollen sollen in der Kompetenz des Bundes liegen und nicht durch die Kantone durchgeführt werden. Bei unvorhersehbaren Ereignissen hat das EJPD den Bundesrat um Prüfung und Bestätigung möglicher Grenzschliessungen zu bitten. Absatz 2 ist daher zu wenig eng ausgelegt. In Absatz 3 Bst. a, ist der Begriff «schwere gesundheitliche Notlage» unklar und unpräzise formuliert, dies muss definiert werden. Dies gilt auch für Abs. 3 Bst. b, wo der Begriff «aussergewöhnliche Umstände» unklar und unpräzise formuliert ist. Schwerwiegende Mängel sollen zudem nicht zur vorübergehenden Wiedereinführung von Grenzkontrollen führen. Es gilt nochmals zu betonen, dass Binnengrenzkontrollen ohnehin nicht von der Pflicht entbinden, jedes Asylgesuch entgegenzunehmen und zu prüfen.

5.1 Racial Profiling

An den Grenzen der Schweiz finden entsprechend dem Schengener Abkommen grundsätzlich keine systematischen Grenzkontrollen statt. Dennoch werden beispielsweise von Juni bis September 2024 die Grenzkontrollen verstärkt,[4] was jedoch keine formelle Wiedereinführung von Grenzkontrollen darstelle, wie der Bundesrat betonte. Doch auch in Zeiten, in denen keine verstärkten Grenzkontrollen, etwa aufgrund von Grossveranstaltungen in Nachbarländern, stattfinden, werden faktische Personenkontrollen durchgeführt. Dies betrifft insbesondere Personen, die ethnisch-kulturell, religiös oder aufgrund ihrer Herkunft oder Hautfarbe als «fremd» wahrgenommen werden. Untersuchungen der EU-Grundrechteagentur[5] haben gezeigt, dass Polizeiarbeit anfällig dafür ist, Menschen aufgrund von rassischen, ethnischen oder religiösen Merkmalen zu kontrollieren. Racial Profiling verstösst gegen das Diskriminierungsverbotund somit gegen Völkerrecht. Im Februar 2024 wurde die Schweiz aufgrund von Racial Profiling einer Polizeikontrolle vom EGMR verurteilt.[6]

Die DJS erreichen immer wieder Hinweise, dass es im Rahmen der Personenkontrolltätigkeit von Schweizer Behörden zu diskriminierenden Kontrollen gegenüber bestimmten Personengruppen kommt.[7] Es braucht daher verbindliche Regelungen, welche der Polizei einen unmissverständlichen Rahmen für eine diskriminierungsfreie Polizeiarbeit auferlegt und diese verpflichtet, Massnahmen zur Sensibilisierung und Prävention zu ergreifen.

Auf Bundesebene, in den Kantonen und Städten sind Stellen zu schaffen, die befugt sind, sämtliche Beschwerden wegen Diskriminierungserfahrungen, Misshandlungen oder Racial Profiling durch die Polizei und Grenzwachcorps unparteiisch zu untersuchen, Vermittlungsprozesse in Gang zu setzen und falls nötig eine Strafanzeige oder eine verwaltungsrechtliche Beschwerde einzureichen.

5.2 Öffentliche Gesundheit

Die neuen Regelungen für Binnengrenzkontrollen im Falle von Bedrohungen der öffentlichen Gesundheit stellen eine bedeutende Veränderung dar. Die DJS weist darauf hin, dass solche Massnahmen potenziell weitreichende Auswirkungen auf Asylsuchende und Migrant*innen haben können. Die Massnahmen dürfen nicht dazu führen, dass Asylsuchenden eine wirksame Möglichkeit zur Beantragung von Asyl verweigert wird oder sie zurückgewiesen werden. Es ist essenziell, dass bei der Umsetzung dieser Massnahmen besondere Rücksicht auf die humanitären Bedürfnisse von Schutzsuchenden genommen wird. Es muss sichergestellt werden, dass Massnahmen zur Bekämpfung von Gesundheitsbedrohungen nicht zu unverhältnismässigen Belastungen für Personen führen, die internationalen Schutz und allenfalls zu medizinischer Versorgung suchen.[8]

Die Gesetzesänderung ist zu eng gehalten und lässt keine Ausnahmen zu. Die DJS fordert, dass es Ausnahmen zu dieser Gesetzesänderung für asylsuchende und in die Schweiz geflüchtete Personen gibt. Asylsuchende und geflüchtete Personen leben und flüchten in prekären Situationen und haben nicht zwingend die Mittel oder Möglichkeit sich an Massnahmen zur Verhinderung der Verbreitung einer übertragbaren Krankheit zu halten. Dies soll ihnen nicht zu Lasten gebracht werden. Aus diesem Grund soll eine Ausnahme für asylsuchende und geflüchtete Personen gelten und kein Einreiseverbot ausgesprochen werden können.

Massgebend sind insbesondere zwingende völkerrechtliche Bestimmungen, namentlich das Refoulement-Verbot (Art. 3 EMRK, Art. 33 FK, Art. 25 Abs. 2 und 3 BV, Art. 7 UNO-Pakt II, Art. 19 Abs. 2 EU-Grundrechtscharta). Diese müssen immer eingehalten werden, auch in ausserordentlichen Situationen: Sie sind notstandsfest und nicht derogierbar. Das Refoulement-Verbot gilt auch für Asylsuchende an der Grenze – und zwar laut EGMR-Rechtsprechung bereits ab dem Moment, in dem sich eine asylsuchende Person unter der Hoheitsgewalt eines Staates befindet. Das ist bereits bei einer Grenzkontrolle immer der Fall, die asylsuchende Person muss das Hoheitsgebiet des kontrollierenden Staates dazu noch nicht betreten haben.[9] Das heisst: Es muss immer im Einzelfall geprüft werden, ob eine Überstellung gegen das Refoulement-Verbot verstossen würde. Eine solche individuelle Prüfung ist nur möglich in einem entsprechenden Verfahren. Deshalb muss an der Grenze die Möglichkeit bestehen, ein Asylgesuch zu stellen und damit Zugang zum Asylverfahren zu erhalten.

Die DJS fordern deshalb, dass die Sicherstellung des Zugangs zu einem Asylverfahren in der Schweiz im Gesetz spezifisch erwähnt wird.

 

Vorschlag:

Art. 65a AIG

Abs. 3: Der Zugang zum Asylverfahren zwecks Einhaltung des Non-Refoulement-Gebotes bleibt gewährleistet.

 

6. Instrumentalisierung von Migration

Der neue Art. 5 Abs. 4 N-SGK sieht vor, dass Schengen-Staaten, die mit einer «Instrumentalisierung» von Migrant*innen konfrontiert sind, die Grenzübergangsstellen oder deren Öffnungszeiten unverzüglich beschränken können.

Eine Instrumentalisierungssituation liegt gemäss Art. 1 Abs. 4 Bst. B der Verordnung (EU) 2024/1359[10] vor, wenn ein Drittstaat oder ein feindseliger nichtstaatlicher Akteur Reisen von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen an die Aussengrenzen oder in einen Mitgliedstaat fördert oder erleichtert, mit dem Ziel, die Union oder einen Mitgliedstaat zu destabilisieren, wenn solche Handlungen wesentliche Funktionen eines Mitgliedstaats, einschliesslich der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung oder des Schutzes seiner nationalen Sicherheit, gefährden könnten.

Die in einem solchen Fall zulässige Beschränkung muss gemäss Art. 5 Abs. 4 N-SGK verhältnismässig sein, die Grundrechte müssen jederzeit eingehalten werden. Die DJS sehen sowohl den Begriff der Instrumentalisierung als auch die damit einhergehenden Handlungsmöglichkeiten sehr kritisch. Situationen in der Vergangenheit haben gezeigt, dass durch die Möglichkeit der Schliessung oder Beschränkung von Grenzübergängen Menschenrechtsverletzungen nicht nur möglich, sondern sehr wahrscheinlich werden. Der Hinweis auf die Wahrung der Grundrechte in Art. 5 SGK ist trotz der Selbstverständlichkeit des Inhalts aus Sicht der DJS zu begrüssen. Jedoch scheint dieser Verweis hier im Widerspruch zu den Erfahrungen der Realität. Seit Jahren beobachten zivilgesellschaftliche Organisationen die u.a. durch Notstandsmassnahmen begründeten schwerwiegenden Menschen-rechtsverletzungen an den Aussengrenzen der EU.[11] Mit dem Vorwand einer sog. Instrumentalisierung wird von menschenrechtlichen Mindeststandards abgewichen und das Recht auf Asyl untergraben. Selbst im Falle dessen, dass Migration als Druckmittel gegen die EU verwendet werden sollte,[12] muss davon ausgegangen werden, dass es sich bei den betroffenen Personen um schutzsuchende Menschen handelt, die nichts mit der Machtpolitik des Staates zu tun haben, in welchem sie sich befinden. Die EU und die Schweiz dürfen mögliche Instrumentalisierungssituationen keinesfalls als Rechtfertigung benutzen, um die Rechte dieser Personen einzuschränken und ihnen den Zugang zu einem Asylverfahren zu erschweren.

7. Besondere Berücksichtigung von vulnerablen Gruppen

Die DJS weisen darauf hin, dass die besonderen Bedürfnisse von vulnerablen Personengruppen wie Minderjährigen, Behinderten, älteren Menschen, Schwangeren, Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern, Opfern von Menschenhandel, Personen mit schweren Krankheiten, Personen mit psychischen Störungen und Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben, jederzeit berücksichtigt werden müssen.

Die DJS betonen, dass vulnerable Personengruppen ihre ihnen zustehenden Rechte nur wahrnehmen können, wenn die Vulnerabilität einzelner Personen auch identifiziert wird. Dies kann nur in einer sorgfältigen individuellen Abklärung geschehen. Nicht alle besonderen Bedürfnisse sind unmittelbar ersichtlich.

Sofern die betroffene Person minderjährig sein könnte, muss das Kindeswohl vorrangig beachtet und auch im Zweifelsfall eine Vertrauensperson eingeschaltet werden, wie in Art. 66 E-AIG vorgesehen.

8.Zugriff auf das nationale ETIAS-System

Die DJS beachten die Zugriffserweiterung der Daten des N-ETIAS auf das EDA als äusserst kritisch und lehnen diese Erweiterung ab. Das EDA soll keinen Zugriff auf die N-ETIAS Datenbank erhalten, der Zugriff auf diese Datenbank ist für die Funktion des EDA und die damit verbundenen Bundesstellen nicht notwendig und stellt einen schweren Eingriff in die Grundrechte auf Schutz der Privatsphäre vulnerabler Personen insbesondere geflüchteten Personen dar. Da es sich bei den im ETIAS vermerkten Daten teilweise um sensible Daten handelt, erachten wir es als äusserst wichtig, dass diese Daten mit der nötigen Sorgfalt behandelt und nicht für anderweitige Zwecke, beispielsweise in Bezug auf das Asylverfahren, genutzt werden. Diesbezüglich gilt es zu erwähnen, dass wir die Benennung des Staatssekretariats für Migration (SEM) als nationale ETIAS-Stelle als störend empfinden. Die Involvierung einer weiteren Bundesstelle, welche für die staatliche Sicherheit und aussenpolitischen Beziehungen zuständig ist, wird ebenfalls als störend empfunden. Die Zugriffserweiterung würde einer weiteren Behörde, die sich unter anderem mit Migrationsthemen befasst und Entscheidungen dazu fällt, erlauben mit der Verwaltung eines Systems betraut zu werden, welches zur Identifikation potenzieller Migrationsrisiken und Merkmale gewisser Personengruppen umgenutzt werden kann. Aus Sicht von DJS sind die Voraussetzungen für einen solchen Grundrechtseingriff grundsätzlich nicht erfüllt (Art. 36 BV: gesetzliche Grundlage, öffentliches Interesse, Verhältnismässigkeit, Schutz des Kerngehalts) und eine Zugriffserweiterung erst recht nicht. Eine solche Zugriffserweiterung, dient unserer Einschätzung nach, der Festigung der europäischen Aussengrenzen, welche eine Diskriminierung und Benachteiligung von Drittstaatsangehörigen zur Folge hat und Menschenrechte für vulnerable Personen weiter einschränkt.

Das Bei der Erweiterung des Zugriffs auf das N-ETIAS-System für das EDA muss zwingend vom eidgenössischen Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragten (EDÖB) geprüft, beurteilt werden.

 

[1] www.euractiv.com/section/migration/opinion/eu-nears-racial-profiling-approval-at-schengen-borders-risking-discrimination/, zuletzt abgerufen am 17.10.2024

[2] Die Vereinbarkeit deutscher Binnengrenzkontrollen mit dem Schengener Grenzkodex unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und der aktuellen Reform des Schengener Grenzkodex, NAGHIPOUR, SALOMON, ZÜLLIG, Gutachten vom 30. April 2024, S. 3.

[3] Ebd. S. 47.

[4] www.srf.ch/news/schweiz/terrorrisiko-in-nachbarstaaten-schweiz-verstaerkt-grenzkontrollen-von-juni-bis-september-2024.

[5] https://fra.europa.eu/en/news/2023/stop-discrimination-and-ethnic-profiling-europe.

[6] EGMR, Urteil Wa Baile gegen die Schweiz, Nr. 43868/18 and 25883/21 vom 20. Februar 2024 mit weiteren Hinweisen zum Diskriminierungsverbot: hudoc.echr.coe.int/fre#{%22itemid%22:[%22001-231080%22]}.

[7] Vgl. dazu die Veröffentlichungen der Allianz gegen Racial Profiling: www.stop-racial-profiling.ch/de/allianz-gegen-racial-profiling/.

[8] Vgl. dazu auch das Argumentarium der SFH zu Grenzschliessungen und Asylgesuchen an der Grenze vom 30. März 2020, www.fluechtlingshilfe.ch/fileadmin/user_upload/Publikationen/Positionspapiere/200327-argumentarium-grenzfragen-de.pdf.

[9] EGMR, Urteil Ilias und Ahmed gegen Ungarn, Nr. 47287/15 vom 21. November 2019.

[10] Verordnung (EU) 2024/1359 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Mai 2024 zur Bewältigung von Krisensituationen und Situationen höherer Gewalt im Bereich Migration und Asyl und zur Änderung der Verordnung (EU) 2021/1147.

[11] Beispiel Grenze Polen-Belarus: SFH, Tausende von Migranten gefangen in einer rechtsfreien Zone zwischen Polen und Belarus, https://shorturl.at/UNllB; Human Rights Watch, www.hrw.org/video-photos/video/2021/11/23/belarus-and-polands-shared-responsibility-border-abuses // Grenze Griechenland-Türkei: http://www.ohchr.org/en/press-releases/2020/03/greece-rights-violations-against-asylum-seekers-turkey-greece-border-must  // Grenze Finnland-Russland: www.amnesty.org/en/latest/news/2024/06/finland-emergency-law-on-migration-is-a-green-light-for-violence-and-pushbacks-at-the-border/ // Grenze Kroatien-Bosnien: www.hrw.org/news/2023/05/03/croatia-ongoing-violent-border-pushbacks.

[12] Wobei es sich hiermit keineswegs um ein wie im erläuternden Bericht beschriebenes «neues» Phänomen handelt, siehe: https://mediendienst-integration.de/artikel/die-instrumentalisierung-von-fluechtlingen-hat-eine-lange-geschichte.html.